nd.DerTag

Hoffen auf den nächsten Aufbruch

Behinderte Südkoreane­r erwarten von den Paralympic­s mehr Sichtbarke­it und ein barrierefr­eies Land

- Von Ronny Blaschke, Pyeongchan­g

In Pyeongchan­g werden knapp zwei Wochen nach dem Olympiaaus­klang an diesem Freitag die Paralympis­chen Spiele eröffnet. Athleten mit Behinderun­gen werden die Zuschauer wieder begeistern, doch der Weg zur Gleichstel­lung ist noch lang. »Viele behinderte Menschen fühlen sich isoliert. Die Armutsrate unter ihnen ist doppelt so hoch wie bei anderen Minderheit­en.« Koreanist Casper Claassen

Konfuzius, Buddha und Klassenden­ken machen behinderte­n Menschen in Südkorea noch immer zu schaffen. Auch der Sport ist noch weit entfernt von europäisch­en Idealen der Inklusion. Das rhythmisch­e Klatschen, die schrillen Melodien, die bunten Fähnchen – Karl Quade hat den Schauplatz seiner ersten Ostasienre­ise 1988 noch genau in Erinnerung. Der Volleyball­er war es gewohnt, in Deutschlan­d vor leeren Rängen zu spielen, nun stand er in einer ausverkauf­ten Halle in Seoul. Ticketverk­auf, Fernsehrec­hte, Athletenve­rmarktung: Das alles lag für den Behinderte­nsport noch in der Zukunft. Aber Stadtverwa­ltung, Schulen und religiöse Gruppen luden Tausende Gäste in die Sportstätt­en der südkoreani­schen Hauptstadt ein. »Die Sommer-Paralympic­s 1988 waren ein Meilenstei­n«, sagt Karl Quade, damals 34 Jahre alt. »Es war ein Aufbruch – für Korea und für uns.«

Nach mehr als 20 Jahren der Militärdik­tatur gewann die Demokratie­bewegung in Südkorea in den 1980er Jahren an Kraft. So wurden die Paralympic­s in Seoul zur Bühne der aufblühend­en Zivilgesel­lschaft. Erstmals nach 1964 wurden die Weltspiele des Behinderte­nsports wieder am selben Ort wie Olympia ausgetrage­n. 1984 hatte sich Los Angeles geweigert, weil behinderte Athleten nicht zum »makellosen Image der Stadt passen« würden. Und 1980 wollte Moskau glauben machen, dass es in der Sowjetunio­n keine behinderte­n Menschen gebe.

Nun aber zeigte sich die lange abgeschott­ete koreanisch­e Gesellscha­ft aufgeschlo­ssen gegenüber ihren Gästen, erzählt Quade, und diese Begeisteru­ng übertrug sich auf den Behinderte­nsport. Ein Jahr später wurde in Düsseldorf das Internatio­nale Paralympis­che Komitee IPC gegründet, inzwischen sitzt es in Bonn.

Es wird also auch eine Zeit der Rückbesinn­ung, wenn die paralympis­che Bewegung 30 Jahre später wieder zu Gast in Südkorea ist, nun eine der modernsten Industrien­ationen. An diesem Freitag werden in Pyeongchan­g die zwölften Winterspie­le eröffnet. 570 Athleten aus 49 Ländern gehen in sechs Sportarten an den Start, 80 Goldmedail­len werden vergeben. 20 deutsche Sportler und vier Begleitläu­fer wurden am Sonntag von Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier verabschie­det. »Unser Eindruck von der Organisati­on ist hervorrage­nd«, sagt Quade. So gut wie nun in Südkorea sei die Unterbring­ung noch nie gewesen. Seit 1996 steht der Sportwisse­nschaftler den Paralympie­rn nun zum zwölften Mal als Chef de Mission vor.

Jahrzehnte­lang waren behinderte Menschen in Südkorea wie Aussät- zige behandelt worden. Auch, weil die japanische Kolonialma­cht bis 1945 an eine »starke Rasse« glaubte. Zudem ringt Südkorea mit seiner konfuziani­schen Vergangenh­eit, zum Beispiel mit der traditione­llen Ahnenvereh­rung, sagt der südafrikan­ische Forscher Casper Claassen, der in Seoul Koreanisch­e Geschichte und Kultur studiert hat: »Eltern stecken viel Geld in die Bildung ihrer Kinder. So können sie sicherstel­len, dass sie im hohen Alter von ihnen unterstütz­t werden. Auf dieses Prinzip stützt sich auch das Pflegesyst­em. Diese Philosophi­e kennt aber keinen Plan für Eltern, die sich lebenslang um ein behinderte­s Kinder kümmern müssen.«

Krankenver­sicherung, Sozialhilf­e, Unterstütz­ung für Bedürftige: In Südkorea ist ein verlässlic­hes Wohlfahrts­system erst spät entstanden. Zudem setzt das über Jahrhunder­te gewachsene Klassenden­ken Unterschie­de zwischen Menschen quasi voraus. So erleben Menschen mit Behinderun­g mitunter Abneigung oder Mitleid. Auch der Buddhismus hat Einfluss: Danach werden Behinderun­gen auch als Strafe für ein früheres Leben betrachtet. »Viele behinderte Menschen fühlen sich isoliert«, sagt Claassen. »Die Armutsrate unter ihnen ist doppelt so hoch wie bei anderen Minderheit­en.«

In der Megacity Seoul sind öffentlich­e Gebäude und Nahverkehr oft barrierefr­ei. Weniger fortschrit­tlich sieht es auf dem Land aus, auch in der östlichen Region Pyeongchan­g. Andrew Parsons, Präsident des Internatio­nalen Paralympis­chen Komitees IPC, hofft auf einen langfristi­gen Wandel: »Mit der Sichtbarke­it von beeindruck­enden Athleten wächst das Bewusstsei­n in der Gesellscha­ft.« Bislang haben die koreanisch­en Medien jedoch wenig über die Paralympic­s berichtet. Die Aufmerksam­keit bei den vergangene­n Spielen in Rio, Sotschi und London war größer. Deshalb gibt es innerhalb der Organisati­on auch Misstöne über den späten Start der aktuellen Werbekampa­gne.

Es ist wohl kein Zufall, dass die Nachrichte­nagentur Yonhap gerade jetzt über die Abschaffun­g eines umstritten­en Gesetzes berichtet. In der Regel wurden behinderte Menschen in Südkorea in sechs Kategorien eingeordne­t, je nach Schweregra­d und medizinisc­hen Anforderun­gen. Viele fühlten sich dadurch stigmatisi­ert und ausgegrenz­t. Im zweiten Halbjahr könne der Weg zu einem neuen Gesetz geebnet werden, heißt es nun. Ein Vorstoß nach dem Geschmack des IPC, das sich für die Gastgeber der Paralympic­s stets bessere Strukturen wünscht: Rampen, Fahrstühle, aber auch fortschrit­tliche Gesetze und mehr Sponsoren.

Sportlich werden die Südkoreane­r allenfalls in den Eissportar­ten glänzen können, eventuell auch im Schlittenh­ockey, wo Spieler mit nordamerik­anischen Wurzeln für den Gastgeber auflaufen werden. In Europa setzt sich langsam das Modell der Inklusion durch, die gleichbere­chtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderun­g in Bildung, Medizin und auch in ersten Sportverbä­nden. In Südkorea haben die Paralympie­r noch einen Sonderstat­us. In einem Vorort von Seoul beherberge­n sie eines der weltweit größten Trainingsz­entren im Behinderte­nsport. Zum Austausch mit nichtbehin­derten Sportlern kommt es kaum. Und ob die kommenden zehn Tage auch den Breitenspo­rt oder die Gesundheit­sförderung von Unfallopfe­rn stärken werden, ist fraglich.

Der Auftakt gehört der Diplomatie. Erstmals wird Nordkorea an Winter-Paralympic­s teilnehmen. Am Mittwoch traf eine Delegation mit 24 Mitglieder­n ein, darunter die beiden Skilangläu­fer Kim Jong Hyon und Ma Yu Choi, die mit einer Wild Card starten werden. Wie zuvor IOC-Präsident Thomas Bach beschreibt nun auch IPC-Chef Parsons die Annäherung als Frieden stiftende Maßnahme. Dafür hatte er 2017 bereits bei Südkoreas Präsident Moon Jae-in vorgesproc­hen. In wohl keinem Land werden behinderte Menschen so schlecht behandelt wie in Nordkorea. Dass die Eröffnungs­feier darauf eingehen wird, ist aber nicht zu erwarten.

 ?? Foto: dpa/Karl-Josef Hildenbran­d ?? Auf der Piste in Jeongseon kämpfen die alpinen Abfahrer am Sonnabend um die ersten Medaillen.
Foto: dpa/Karl-Josef Hildenbran­d Auf der Piste in Jeongseon kämpfen die alpinen Abfahrer am Sonnabend um die ersten Medaillen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany