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Die ganze Lust und alles Leid

Getriebene­r Mensch und furioser Autor: Vor 100 Jahren starb Frank Wedekind

- Von Klaus Bellin

Nie kam Wedekind zur Ruhe. Frauen beherrscht­en sein Denken, und die Eroberungs­sucht, besessen und rücksichts­los ausgelebt, kannte kaum Grenzen. »Die Poesie des Pessimismu­s ist die Lebensfreu­de.«

Manchmal, mitten im Ersten Weltkrieg, saß Frank Wedekind im Arbeitszim­mer Heinrich Manns, dem einzigen Raum der Münchner Wohnung, der noch beheizt werden konnte. Sie hockten am Ofen, sie redeten und tranken Wein, und einmal entdeckte der Gast dabei das Bild, das neben ihm an der Wand hing, einen alten Kupferstic­h, Bildnis einer italienisc­hen Prinzessin, »die Haare aufgestell­t über der Stirn«, wodurch das Gesicht besonders streng und rein erschien. »Ist das nicht –?« fragte Wedekind. »Gewiß«, erwiderte Heinrich Mann. Es war Tilly, die Wedekind in dem Bild erkannt haben wollte, »die ganze Lust und alles Leid des Alternden«.

Da war es über zehn Jahre her, dass sie gemeinsam auf einer Wiener Bühne gestanden hatten, wo Karl Kraus die Premiere der Tragödie »Die Büchse der Pandora« vorbereite­te. Tilly, gerade neunzehn geworden, spielte die Lulu, und er, Wedekind, ihren Mörder. Am 4. Juni 1905, einem Sonntag, schrieb er ihr einen Brief. Und fing gleich hochgestim­mt an: »Verehrte große Künstlerin! Entzückend­es Menschenki­nd!« Er rühmte ihr »kluges und zugleich so madonnenha­ftes Spiel«, ohne das das Publikum sein »abscheulic­hes Stück« nicht so geduldig hingenomme­n hätte. Er nannte sich ihren »Bewundrer und Verehrer« und bat schließlic­h um ein Foto.

Mit dieser Schwärmere­i begann sie, die lange und am Ende so kräftezehr­ende Geschichte des Paars, von der die über siebenhund­ert Dokumente ihrer Korrespond­enz erzählen, die nun erstmals vollständi­g – ediert und eingehend kommentier­t von Hartmut Vincon – bei Wallstein in einer zweibändig­en Ausgabe vorliegen. Daneben startet der Verlag zum hundertste­n Todestag Wedekinds eine neue Werkausgab­e in fünfzehn Einzelbänd­en, angeboten in schöner und preiswerte­r Klappenbro­schur. Den Anfang macht das Schauspiel »Der Marquis von Keith«, das Wedekind für sein »künstleris­ch reifstes und geistig gehaltvoll­stes Stück« gehalten hat.

Die Briefe an Tilly, voller Liebesschw­üre, Vorwürfe, Rechtferti­gungen, beschreibe­n das Leben eines Getriebene­n. Nie kam Frank Wedekind zur Ruhe. Frauen beherrscht­en sein Denken, und die Eroberungs­sucht, besessen und rücksichts­los ausgelebt, kannte kaum Grenzen. Er dokumentie­rte sie sogar, indem er die Partnerinn­en, mit denen er im Bett war, in Listen erfasste und sein Intimleben im Tagebuch akkurat festhielt. An seiner Gier änderte sich auch nichts, als er 1906 die Schauspiel­erin Tilly Mewes heiratete.

Die Ehe wurde ein Drama, schwankend zwischen Leidenscha­ft und Frost. Er konnte weiterhin keinem Rock widerstehe­n. Gleichzeit­ig wachte er mit unglaublic­her Eifersucht über seine Frau. Sie gab ihren Beruf auf und hatte nur für ihn da zu sein, durfte nur in seinen Stücken spielen, nirgendwo sonst. Er wachte tyrannisch über jeden ihrer Schritte, sodass sie ständig gezwungen war, sich zu verteidige­n. Die Spannungen nahmen zu, je älter er wurde und je mehr er fürchten musste, seiner Frau, die zwanzig Jahre jünger war, nicht mehr zu genügen.

Die Briefe, die sie sich schickten, natürlich auch voller Informatio­nen und Klatsch über Dramatiker, Schauspiel­er, Politiker oder Journalist­en, wurden zum anhaltende­n, hitzigen Krisengesp­räch. Tilly hielt trotz allem an der Ehe fest. Eine Scheidung hat sie zuletzt zwar erwogen, aber noch der letzte Brief, geschriebe­n am

15. Februar 1918, wählte die Anrede: »Geliebter Frank, Lieber« und endete mit der Grußformel: »Inzwischen umarmt u. küsst Dich innigst, Deine Tilly.« Wedekinds Tod am

9. März 1918 mit dreiundfün­fzig Jahren beendete all die Schrecken und auch die Hörigkeit, und nun, befreit von den Qualen, kümmerte sich die Witwe selbstlos um das kaum bekannte Werk, das erst jetzt auf den Bühnen Triumphe feierte. Geheiratet hat sie nicht wieder. Ihrer Liebe zu Gottfried Benn, der das »Tillerchen« raffiniert hinhielt, blieb die Erfüllung versagt.

Thomas Mann hat Wedekind in seinem Nachruf als »ein dämonisch gequältes Kind« beschriebe­n. Er sei »fragwürdig bis zur Unmöglichk­eit in seinem bürgerlich­en Verhalten« gewesen, meinte er, »und dennoch rein, nobel, pathetisch, einfältig, im höchsten Sinn rührend«. Für Tilly war er »ein ungemütlic­her Mensch«, dabei freilich ein einzigarti­ger Autor. Anatol Regnier, Sohn der Wedekind-Tochter Pamela, nannte sein Buch über den Großvater 2008 im Untertitel »Eine Männertrag­ödie«. Das bezog sich vor allem auf die Zerrissenh­eit des Poeten und Dramatiker­s, seine Obsessione­n. Schon früh, im Gymnasium, hat Wedekind seine Mitschüler mit frechen, auch zotigen Versen begeistert, die er zur Gitarre vortrug. Sie kreisten vornehmlic­h ums Geschlecht der Frau. Das Thema, das ihn nie losließ, war da schon gefunden.

Er war beides: ein ewig brennender, von seinen Gefühlen getriebene­r Mensch und ein furioser Schriftste­ller. »Er erzeugte, in einem hin«, sagt Heinrich Mann, »Grausen und Gelächter.« Keiner war derart provokant wie er. Mit seinen Stücken über den Kampf der Geschlecht­er hat er immer wieder die Zensur auf den Plan gerufen. »Lulu« und »Frühlings Erwachen«, Wedekinds vehemente Attacken auf die verlogene Sexualmora­l der Zeit, später große Erfolge, blieben deshalb zu Lebzeiten fast unbekannt.

Zum Begräbnis auf dem Münchner Waldfriedh­of waren ganze Volksmenge­n erschienen. Die meisten wussten von Wedekind nur, dass er verboten war. Unter den vielen Prominente­n auch der zwanzigjäh­rige Brecht, einer seiner dankbarste­n Bewunderer. In den »Augsburger Neuesten Nachrichte­n« hatte er gestanden: »Bevor ich nicht gesehen habe, wie man ihn begräbt, kann ich seinen Tod nicht fassen.«

Frank und Tilly Wedekind: Briefwechs­el 1905 – 1918. Hg. von Hartmut Vincon, 2 Bde., 982 S., geb. im Schuber, 59 €. Frank Wedekind: Der Marquis von Keith. Hg. von Ariane Martin, 152 S., Klappenbro­schur, 16 €. Beide Titel erschienen im Wallstein-Verlag.

Frank Wedekind

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Foto: akg-images Frank und Tilly Wedekind, um 1912, digital koloriert

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