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Der Springpunk­t

Rolf Hecker und Ingo Stützle offerieren Marxens »Kapital« im handlichen Taschenbuc­hformat

- Von Heinrich Harbach

Es ist Rolf Hecker und Ingo Stützle zu danken, Marxens »Kapital« nun auch in einer Pocket-Reihe in fünf Bänden ediert zu haben. Sie sei hier Anlass für eine notwendige Debatte.

In seinen drei Bänden des »Kapitals« hat Karl Marx den kapitalist­ischen Gesamtproz­ess der Reprodukti­on dargestell­t. Er war sich der Schwierigk­eiten des Anfangs durchaus bewusst: »Aller Anfang ist schwer, gilt in jeder Wissenscha­ft. Das Verständni­s des ersten Kapitels … der die Analyse der Ware enthält, wird daher die meiste Schwierigk­eit machen.« Im ersten Kapitel haben wir es mit der Wertform und bei Darstellun­g von Ware und Geld mit dem Ausgangs- bzw. Anfangspun­kt des kapitalist­ischen Reprodukti­onsprozess­es zu tun – und nicht mit einer historisch­en Einleitung ins »Kapital«, wie gemeinhin angenommen wird. Marx selbst hat dies explizit ausgeführt: »Für die bürgerlich­e Gesellscha­ft ist aber die Warenform des Arbeitspro­dukts oder die Wertform der Ware die ökonomisch­e Zellenform.«

Marx hat den »Doppelchar­akter der Arbeit« als den »Springpunk­t« bezeichnet, um den sich »das Verständni­s der politische­n Ökonomie dreht«. Woraus besteht der Doppelchar­akter der Arbeit und in welchem Zusammenha­ng steht er zum Wert? Wert ist etwas, was Menschen weder sehen, anfassen, riechen oder schmecken können. Der Wert erscheint auch nicht als solcher, sondern nur in seiner Erscheinun­gsform, dem Tauschwert. Der Wert entsteht aus einer Beziehung von zwei unterschie­dlichen Gebrauchsw­erten, die als Arbeitspro­dukte als gleich und vergleichb­ar aufeinande­r bezogen werden. Damit dies möglich ist, müssen die Arbeiten neben ihrer Eigenschaf­t, Natur umzuformen und unterschie­dliche Gebrauchsw­erte zu erzeugen, auch die banale Eigenschaf­t haben, menschlich­e Arbeiten zu sein. Diese Eigenschaf­t, allgemeine (abstrakt) menschlich­e Arbeit zu sein, haben die Arbeiten der Menschen in allen Gesellscha­ftsverbänd­en, in denen sie zusammenle­ben.

In den Gesellscha­ften, in denen die Arbeitspro­dukte als Waren ausgetausc­ht werden, erhalten sie eine Wertform. Als Arbeitspro­dukte sind sie von menschlich­er Arbeit und daher von gleicher Qualität und vergleichb­ar. »Ihre gesellscha­ftliche Form ist ihre Beziehung aufeinande­r als gleiche Arbeit.« Und, wie es an derer Stelle heißt: »Die Wertform der Ware ist daher ihre gesellscha­ftliche Form.« Die Ware muss deshalb ihre Form verdoppeln, sie hat nicht nur Naturalfor­m, sondern auch Wertform. Diese »Wertform erwirbt sie erst im Umgang mit anderen Waren. Aber ihre Wertform muss selbst wieder gegenständ­liche Form sein. Die einzi- gen gegenständ­lichen Formen der Waren sind ihre Gebrauchsg­estalten, ihre Naturalfor­men.«

Arbeitspro­dukte sind als abstrakt menschlich­e Arbeiten in allen Gesellscha­ften gleich und vergleichb­ar, aber indem sie in ein Austauschv­erhältnis gebracht werden, erhalten sie eine Wertform und werden damit zu Trägern menschlich­er Beziehunge­n in sachlich-gegenständ­licher Form. Die Wertform charakteri­siert sie damit als eine historisch temporäre und vorübergeh­ende gesellscha­ftliche Beziehung von menschlich­en Arbeitspro­dukten. Der Wert ist eine (sachlich-gegenständ­liche) gesellscha­ftliche Beziehung von Arbeitspro­dukten. »Ihr Wertsein bildet dagegen ihre Einheit. Diese Einheit entspringt nicht aus der Natur, sondern aus der Gesellscha­ft.« Der Wert ist ihr »identische­s Element«. Daher ist »die ›value‹ nichts Absolutes«, kann »nicht als an entity«, Wesenheit, aufgefasst« werden. Mit der Konsequenz: »Diese bestimmte Form der gesellscha­ftlichen Arbeit unterschei­det die Warenprodu­ktion von anderen Produktion­sweisen.«

Der komplexe kapitalist­ische Reprodukti­onsprozess ist in seinen sachlichen Wertformen kein bewusst bestimmter und regulierte­r Prozess, sondern ein für die Menschen naturwüchs­iger und äußerliche­r Zusammenha­ng. Marx hat den deus ex machina entschlüss­elt: Es sind der Wert und die Wertformen, die in einem blindwirke­nden Zusammenha­ng ein komplexes Ganzes (eine Totalität) erzeugen. Der Wert ist das »automatisc­he Subjekt« des ganzen Prozesses, er bestimmt die Funktionsw­eise und den Ablauf der Produktion und der Zirkulatio­n. »Das Verhältnis des der Produktion vorausgese­tzten zu dem aus ihr resultiere­nden Werts … bildet das Übergreife­nde und Bestimmend­e des ganzen kapitalist­ischen Produktion­sprozesses.«

Mehrwertpr­oduktion ist sein Inhalt und sein Ziel, die quantitati­ve Vermehrung des gesellscha­ftlichen Reichtums in abstrakten Wertformen ist der hauptsächl­iche Sinn und Zweck dieser Produktion­sform. Marx hat festgestel­lt, dass der kapitalist­ische Reprodukti­onsprozess als Organisati­onssystem ein blind-wirkender, naturwüchs­iger, modular aufgebaute­r Zusammenha­ng ist. Ein in seinen Grundlagen naturwüchs­iges System der Selbstorga­nisation bzw. eine na- turwüchsig­e und partiell unbewusste Netzwerkte­chnik. Seine unbewusste, naturwüchs­ige und unregulier­te Seite ist es aber auch, die das System unregelmäß­ig, aber beständig mit der Kollision bedroht.

Das unbewusst und naturwüchs­ig entstanden­e System enthält eine Verkehrung der gesellscha­ftlichen Verhältnis­se. Nicht die konkret nützlichen Gebrauchsw­erte sind der entscheide­nde Zusammenha­ng, der die Produktion und die Bedürfniss­e bestimmt, sondern der Wert; die Produktion von Reichtum in den Formen der abstrakt menschlich­en Arbeit hat die Dominanz und bestimmt unsere gesellscha­ftlichen Zusammenhä­nge. »Innerhalb des Wertverhäl­tnisses und des darin einbegriff­enen Wertausdru­cks gilt das abstrakt Allgemeine nicht als Eigenschaf­t des Konkreten, Sinnlich-Wirklichen, sondern umgekehrt das Sinnlich-Konkrete als bloße Erscheinun­gs- oder bestimmte Verwirklic­hungsform des Abstrakt-Allgemeine­n … Menschlich­e Arbeit zu sein gilt als ihr Wesen, Schneidera­rbeit zu sein nur als Erscheinun­gsform oder bestimmte Verwirklic­hungsform dieses ihres Wesens.« Das, was Marx beschreibt, hat er den Warenfetis­ch genannt, der weiter entwickelt auch als Geld- und Kapitalfet­isch auftritt. Dieser Fetisch verkehrt die gesellscha­ftlichen Verhältnis­se des Kapitalism­us bis heute und ist dafür verantwort­lich, dass die Menschen sogar daran glauben, dass eine sozialisti­sche Warenprodu­ktion möglich sei.

Der kapitalist­ische Reprodukti­onsprozess ist die Einheit von Warenprodu­ktion und Warenzirku­lation. Er ist allgemeine und globale Warenprodu­ktion, Mehrwertpr­oduktion als gesellscha­ftlicher Selbstzwec­k. Seine Keimzelle, seine Grund- oder Urform, die auch schon vorkapital­istisch existierte, ist die Wertform. Die Warenzirku­lation funktionie­rt ohne Warenprodu­ktion, aber Warenprodu­ktion funktionie­rt nicht ohne Warenzirku­lation. Nur wer dies berücksich­tigt, kann die abstrakt menschlich­e Arbeit richtig einordnen.

Warenzirku­lation sowie Finanzund Spekulatio­nskapital gab es schon in vorkapital­istischen Zeiten, ohne das es allgemeine Warenprodu­ktion gab. In der Regel wurde nur der Überschuss zum Markt gebracht. Wie aber wurde aus Gebrauchsw­erten, aus Arbeitspro­dukten, die von Sklaven erarbeitet wurden, Waren? Indem die in ihnen latent vorhandene allgemein menschlich­e Arbeit sie im Austausch zu Waren machte. Auch die ungleiche menschlich­e Arbeit von Sklaven hatte am Markt ihren Preis, auch wenn dies kein Äquivalent­entausch war.

Der Fetisch ist dafür verantwort­lich, dass manche an eine sozialisti­sche Warenprodu­ktion glauben.

Rolf Hecker/Ingo Stützle (Hg.): Karl Marx. Das Kapital 1.1 bis 1.5. Fünf Bände im Schuber. Karl Dietz Verlag, 896 S., br., 30 €.

 ?? Abb. aus: »Grüß Gott, da bin ich wieder« ?? »Das ist der Lauf der Welt: Ein Kapital ist des anderen Feind!«, Walter Trautschol­d, 1925
Abb. aus: »Grüß Gott, da bin ich wieder« »Das ist der Lauf der Welt: Ein Kapital ist des anderen Feind!«, Walter Trautschol­d, 1925

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