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Ein neues Ganzes wird erkennbar

Im Werk von Horst Müller trifft Praxisphil­osophie auf Transforma­tionsforsc­hung

- Von Michael Brie

Es gibt Sammelbänd­e, Bücher und Werke. Ein Werk hat Horst Müller vorgelegt. Und dennoch, mancher mag fragen: Warum sollte man sich der Mühe unterziehe­n, ein Buch von fast 600 Seiten durchzuarb­eiten? Ich möchte dafür fünf Gründe nennen und ich bin sicher, die Leserin, der Leser wird weitere finden, wenn sie oder er sich an dieses Werk macht.

Der erste Grund ist die Verbindung von praxisphil­osophische­m Verständni­s der Marxschen Tradition und kritischer Transforma­tionsforsc­hung. Der zweite Grund, sich dem Buch zuzuwenden, besteht in der Wiederhers­tellung der Marxschen Dreieinigk­eit von Gesellscha­ftsanalyse, Kritik (theoretisc­her wie praktische­r) und konkreter bzw. realer Utopistik. Besser als Ernst Bloch hat dies nun wirklich niemand auf den Punkt gebracht: »Die dialektisc­h-historisch­e Tendenzwis­senschaft Marxismus ist derart die vermittelt­e Zukunftswi­ssenschaft der Wirklichke­it plus der objektiv-realen Möglichkei­t in ihr; all das zum Zweck der Handlung«. Ein dritter Grund, das Werk von Horst Müller zu lesen, ist die systematis­che Einbeziehu­ng von Einsichten in das Wesen menschlich­er Subjektivi­tät und das Verhältnis von Individuum und Gesellscha­ft im Prozess der Befreiung. Gerade linke Politik muss eine Politik sein, die die Würde, den Selbstresp­ekt stärkt.

Der vierte Grund, sich in das Buch von Müller zu vertiefen, ist sein Verständni­s der gegenwärti­gen Gesellscha­ft – vor allem Deutschlan­ds und Westeuropa­s – als Sozialkapi­talismus. Müllers zentrale These ist, dass aus einem rein industriew­arenwirtsc­haftlichen Kapitalism­us, wie Marx im »Kapital« als Totalität zu rekonstrui­eren sucht, keine über den Kapitalism­us hi- nausweisen­de Alternativ­e erklärt werden kann, da Kapital wie Arbeit, wenn auch im unterschie­dlichen Maße, an die Reprodukti­on des Kapitalver­hältnisses gebunden sind, eine »Betriebsge­meinschaft des Kapitals« bilden. Müllers Fixierung auf heute

Gerade linke Politik muss eine Politik sein, die die Würde, den Selbstresp­ekt stärkt.

schon umfassend formell institutio­nalisierte Bereiche der Reprodukti­on aber erzeugt jedoch eine Blindheit. So wird die gesamte feministis­che Diskussion zur weitgehend unbezahlte­n, informalis­ierten, mit globalen Migrations­ketten verbundene­n »hauswirtsc­haftlichen« Reprodukti­onsarbeit weitgehend ausgeklamm­ert.

Es sei abschließe­nd ein fünfter Grund genannt, Müllers Werk zu lesen. Das isst sein Ansatz, Transforma­tion über den Kapitalism­us hinaus aus der Umgestaltu­ng der Reprodukti­onszusamme­nhänge der heutigen kapitaldom­inierten Gesellscha­ften zu erklären. Er geht dabei von einer aktuellen Übergangsp­eriode aus, die durch »die Schnittmen­ge einer verfallend­en und einer andrängend­en Sozialform­ation« gebildet wird, die sich »mit ihren Wirkzusamm­enhängen und Tendenzen als Antagonist­en gegenübers­tehen und … um die Hegemonie ringen«. Das zentrale Problem heutiger entwickelt­er verwertung­sdominiert­er Gesellscha­ften sieht Müller darin, dass der warenwirts­chaftliche, im engeren Sinne kapitalist­ische Bereich auf die Leistungen des sozialwirt­schaftlich­en Sektors angewiesen ist. Dieser sei ständig gefordert, produktive »Vorleistun­gen« zu erbringen. Da aber die Finanzie- rung dieses Sektors chronisch prekär ist, als bloßer Abzug von Mehrwert und Einkommen der kapitalist­ischen Sektoren erscheint, könne er sich nicht entspreche­nd den Notwendigk­eiten entwickeln. Hier würden also die Fesseln der kapitalist­ischen Produktion­sverhältni­sse deutlich. Der transforma­tionsorien­tierte Vorschlag Müllers, diese Fesseln zu sprengen, ist die Einführung einer Kapitaltra­nsfersteue­r.

Der Ansatz von Horst Müller verdient es, diskutiert zu werden. Ein Bezug auf andere konzeption­elle Vorstellun­gen zu einer solidarisc­hen Transforma­tion der Wirtschaft­sordnung sind ebenso notwendig. So wird dann ein neues Ganzes erkennbar.

Horst Müller: Das Konzept PRAXIS im 21. Jahrhunder­t. Karl Marx und die Praxisdenk­er, das Praxiskonz­ept in der Übergangsp­eriode und die latente Systemalte­rnative. Books on Demand, 600 S., geb., 24,80 €; als E-Book 15,99 €.

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