Neue Ökonomie der Hinterhöfe
Warum sich die EU für höhere Löhne für Osteuropäer einsetzt.
Nach der neuen EURichtlinie sollen entsandte Arbeiter, etwa aus Osteuropa, Tariflohn erhalten. Das Wohlergehen der Ausgebeuteten allein ist dabei allerdings nicht das Ziel.
US-Präsident Donald Trump gilt als Präsident der Reichen – doch derzeit setzt er sich für die Armen ein. Für die mexikanischen. Ihre Arbeitsbedingungen und Löhne zu verbessern, macht Washington zur Bedingung für ein neues Freihandelsabkommen mit Mexiko. Die EU gilt als neoliberal – doch derzeit setzt sie sich für die schlecht entlohnten Arbeiter ein. Für die osteuropäischen. Ihre Ausbeutung soll mit der neuen EUEntsenderichtlinie ein Ende haben. Das Wohlergehen der Ausgebeuteten allein ist dabei allerdings nicht das Ziel. In der Konkurrenz der Standorte ändern die USA und Westeuropa die Art und Weise, wie sie ihre Hinterhöfe bewirtschaften.
Mit Osteuropa und Mexiko haben die mächtigen EU-Staaten und die USA zwei Regionen mit enorm billiger Arbeitskraft vor der Haustür. Ein mexikanischer Bandarbeiter verdient mit rund zwei Dollar pro Stunde nur ein Zehntel seines US-Kollegen. In Tschechien, Ungarn oder der Slowakei erreichen die Stundenlöhne in der Industrie – trotz der Lohnsteigerungen der Vergangenheit – nicht mal ein Drittel des deutschen oder französischen Niveaus.
Mit der Nordamerikanischen Freihandelszone (Nafta) und der Osterweiterung schlossen die USA und die EU diese Regionen an den eigenen Rechtsrahmen an und eröffneten ihrer heimischen Industrie damit ein
immenses Reservoir an billiger Arbeitskraft. Dieses Angebot nahmen die Konzerne gerne an. Amerikas Investitionen in Mexiko schossen seit Nafta-Gründung 1994 von 15 Milliarden auf über 100 Milliarden Dollar in die Höhe und heizten die Lohnkonkurrenz zwischen amerikanischen und mexikanischen Standorten an. Allein der US-Autosektor baute ein Drittel seiner Jobs ab, gleichzeitig stieg die Zahl der mexikanischen Auto-Arbeiter von 120 000 auf 550 000. Auch ausländische Konzerne wie Volkswagen oder BMW zogen Werke an der mexikanischen Grenze hoch, um von dort in die USA zu exportieren. Seit 1993 haben sich Mexikos Ausfuhren in die USA mehr als versechsfacht, geliefert werden vor allem Autos, Maschinen und Elektronik.
Ähnliches geschah in Osteuropa. Vor allem das Kapital aus Deutschland, Frankreich und den Niederlan-
den ließ sich dort nieder. In Tschechien arbeitet heute ein Drittel der Beschäftigten für ausländische Unternehmen. In Polen produzieren Auslandsfirmen zwei Drittel aller Exporte. Die größten Firmen in der Slowakei und Tschechien gehören Volkswagen. Pro Kopf der Bevölkerung produziert die Slowakei so viele Autos wie kein anderes Land der Welt. Der Bloomberg-Kolumnist Leonid Bershidsky nennt Osteuropa »ökonomische de-facto-Kolonien«. Das lohnt sich für die Investoren: Laut Berechnungen des Bruegel-Instituts liegen die Renditen ihrer ausländischen Direktinvestitionen »besonders in Osteuropa hoch«, zwischen fünf und zwölf Prozent. Zum Vergleich: In Frankreich und Deutschland verdienen ausländische Investoren im Durchschnitt zwei bis vier Prozent.
Doch nun geschieht etwas Neues: Die lange Jahre politisch gewollte und organisierte Lohnkonkurrenz wird entschärft. Der mexikanischen Regierung liegt ein Gesetzentwurf vor, der die Gewerkschaften des Landes weiter schwächen soll. Lohnverhandlungen werden stärker auf Betriebsebene verlagert und prekäre Arbeitsverhältnisse gefördert. »Das wird die mexikanischen Löhne weiter drücken und die Verlagerung von amerikanischen Jobs befördern«, warnt der USGewerkschaftsverband AFL-CIO in einem Brief an den US-Handelsbeauftragten Robert Lightizer, der mit Mexiko derzeit eine Neuauflage der Nafta verhandelt. »Wenn Mexiko nicht aufhört, die Löhne der Arbeiter zu drücken, wird kein Nafta-Abkommen durch den Kongress kommen«, drohen 180 US-Abgeordnete in einem Brief.
Dem schließt sich auch US-Präsident Trump an. Er hat bessere Arbeitsbedingungen in Mexiko zur Voraussetzung eines neuen Abkommens gemacht. Während Trump in den USA eine weitere Schwächung der heimischen Gewerkschaften eingeleitet hat, will er sie in Mexiko stärken, um dort höhere Löhne als Standortnachteil durchzusetzen – zum Wohle amerikanischer Jobs. Höhere Löhne als Ergänzung zur Mauer zu Mexiko sollen Fluchtursachen bekämpfen, nämlich die »Flucht« der US-Konzerne in den billigen Süden. Ein geplanter Besuch des mexikanischen Präsidenten mit Trump ist gerade abgesagt worden – »es ist nicht der geeignete Zeitpunkt«, erklärte ein ranghoher US-Regierungsvertreter.
In Europa wird das Problem anders angegangen. Die EU hat keinen direkten Zugriff auf die osteuropäischen Lohnniveaus, denn diese liegen im Kompetenzbereich der Nationalstaaten. Dennoch wird aus Westeuropa Druck gemacht, dass zumindest jene Osteuropäer mehr verdienen, die aus der Heimat gen Westeuropa zur Arbeit geschickt werden. »Wir können nicht zulassen, dass es Leute gibt, die Arbeiter aus dem Ausland holen, sie für ein paar Kröten arbeiten lassen und damit gesunde deutsche Betriebe kaputt machen«, schimpfte schon 2005 Bundeskanzler Gerhard Schröder.
Auf Druck insbesondere der französischen Regierung liegt eine neue EU-Entsenderichtlinie vor. Statt des branchenüblichen Mindestlohns sollen entsandte Arbeiter nun den Tariflohn am Arbeitsort erhalten, zudem werden Entsendungen auf 18 Monate begrenzt. Laut EU-Kommission ist dies nötig, »um ›Sozialdumping‹, d. h. das Unterbieten von Preisen auf lokalen Märkten durch ausländische Dienstleister, deren Arbeitsstandards niedriger sind, zu vermeiden«. Im Klartext: Es geht nicht um ein besseres Leben für die Osteuropäer, sondern um Wettbewerbsnachteile der Firmen aus dem Westen.
Vergeblich wehrten sich die osteuropäischen Regierungen gegen die neue Entsenderichtlinie. Polen, Ungarn, Rumänien und weitere elf Staaten versuchten, sie zu stoppen. Polens Regierung wetterte gegen den »Protektionismus« Westeuropas. Ähnlich sieht das Urs Pötzsch vom wirtschaftsliberalen Institut CEP: »Unternehmen aus Osteuropa können bisher vor allem bei den Lohnkosten punkten«, sagte er im MDR. Würden ihre Arbeitnehmer finanziell gleichgestellt, würde die Wettbewerbsfähigkeit dieser Unternehmen erheblich beeinträchtigt. »Sie würden faktisch aus dem westeuropäischen Markt gedrängt. Das wäre Protektionismus.«
In der Konkurrenz um rentable Lohnkosten will die französische Regierung nun noch einen Schritt weiter gehen. Sie fordert eine Angleichung der Sozialstandards in der EU. Auch die Große Koalition spricht in ihrem Sondierungspapier von einem »Rahmen für Mindestlohnregelungen sowie für nationale Grundsicherungssysteme« im Kampf gegen Lohndumping. Zudem will die EU künftig verstärkt prüfen, ob eingeführte Güter zu Dumpingpreisen angeboten werden und ob die Hersteller durch niedrigere Sozial- und Umweltstandrads unfaire Handelsvorteile genießen. Auch dagegen wehren sich die osteuropäischen Regierungen. Denn, so die Commerzbank, mit »höheren Sozialstandards und Mindestlöhnen verlieren die osteuropäischen Länder ihren entscheidenden Wettbewerbsvorteil« – nämlich die relative Armut ihrer Bevölkerung.
Im Kampf um Marktanteile entschärfen die USA und Westeuropa also die von ihnen organisierte Lohnkonkurrenz mit den Staaten östlich und südlich ihrer Grenzen. Damit wollen sie zum einen Wertschöpfung im Land halten oder dorthin ziehen. Zweitens zeigt die trotz des Aufschwungs sehr schwache Lohnentwicklung in der EU und den USA, dass die Lohnsenkungsstrategie aus Sicht von Washington, Berlin und Paris mittlerweile wohl etwas zu erfolgreich war. Und drittens wird auf die Beschwerde gerade von rechter Seite eingegangen, Schuld an der Armut in Deutschland, Frankreich und den USA seien die Ausländer – die armen Mexikaner und Osteuropäer.
Damit soll gleichzeitig der Anti-EUStimmung im Westen begegnet werden. »Fairness ist wichtig, um das Vertrauen der Bürger in den EU-Binnenmarkt zurückzuerlangen und zu erhalten«, so EU-Sozialkommissarin Marianne Thyssen. »Gelingt das nicht, verlieren wir den Binnenmarkt.« Mit Entsenderichtlinie und Sozialunion kämpft die EU also um ihre Reputation, die »gerade in den Krisenländern darunter gelitten hat, dass die EU für die schmerzhaften Einschnitte in die Sozialsysteme verantwortlich gemacht wird«, so die Commerzbank.
In den USA hat Trump eine weitere Schwächung der Gewerkschaften eingeleitet. In Mexiko will er sie dagegen stärken, um dort höhere Löhne als Standortnachteil durchzusetzen – zum Wohle amerikanischer Jobs.