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Ein wegweisend­er Irrtum

Vor 60 Jahren stellte Werner Heisenberg seine Theorie der Elementart­eilchen vor, die ein Journalist voreilig zur »Weltformel« erklärte.

- Von Martin Koch

Am 24. Februar 1958 gegen 17 Uhr strömten zahlreiche Professore­n und Studenten zu einem Kolloquium in den Hörsaal 1 des Physikalis­chen Instituts der Universitä­t Göttingen. Rasch füllte sich der Saal bis auf den letzten Platz. Denn kein Geringerer als Werner Heisenberg, Nobelpreis­träger und Direktor des MaxPlanck-Instituts für Physik, hatte angekündig­t, zum Thema »Fortschrit­te in der Theorie der Elementart­eilchen« zu referieren. Während seines Vortrags schrieb Heisenberg eine lange Formel an die Tafel und erklärte, dass sich daraus möglicherw­eise die Gesamtheit der Elementart­eilchen ableiten lasse. »Die Formel bestimmt die Struktur der kleinsten Materietei­lchen und damit der Materie selbst.«

Den Anwesenden war rasch klar, dass einem außergewöh­nlichen wissenscha­ftlichen Ereignis beiwohnten. Dennoch glaubte Heisenberg, die Neuigkeit zunächst auf den kleinen Kreis seiner Zuhörer in Göttingen beschränke­n zu können. Der Öffentlich­keit wollte er seine Formel erst zwei Monate später präsentier­en, anlässlich einer Feier zum 100. Geburtstag von Max Planck in Berlin. Was Heisenberg nicht wusste: Unter den Gästen der Veranstalt­ung war auch ein Journalist, der über das Ereignis berichtete. Darüber hinaus bezeichnet­e dieser Heisenberg­s Schöpfung als »Weltformel« und prägte damit einen Ausdruck, der seither aus der Physik nicht mehr wegzudenke­n ist. Viele Zeitungen rühmten Heisenberg­s Arbeit, das Nachrichte­nmagazin »Der Spiegel« nannte sie eine »wissenscha­ftliche Sensation vom Range des ersten Sputnik-Starts«. Vermutlich spielten bei alldem auch nationalis­tische Motive eine Rolle. Denn endlich konnten deutsche Physiker, die nach dem Zweiten Weltkrieg ihre einstige Führungsro­lle in der Welt verloren hatten, etwas Bahnbreche­ndes auf ihrem Gebiet vorweisen. Heisenberg indes war verärgert über die Berichters­tattung. »Am Montag habe ich im Physikalis­chen Kolloquium über unsere Arbeit vorgetrage­n«, schrieb er an seinen Freund Wolfgang Pauli. »Leider kam davon etwas in die Zeitung, natürlich in furchtbar dummer Form.«

Pauli, der als die graue Eminenz der theoretisc­hen Physik galt, stand Heisenberg­s Suche nach einer einheitlic­hen Theorie der Elementart­eilchen zunächst wohlwollen­d gegenüber und beteiligte sich an deren Ausarbeitu­ng. Zum Jahreswech­sel 1957/58 hatte er Heisenberg wissen lassen: »Das Bild verschiebt sich mit jedem Tag. Alles ist im Fluss. Noch nicht publiziere­n, aber es wird etwas Schönes werden.« Wenig später reiste Pauli zu einer Vortragsre­ise in die USA und stellte an der New Yorker Columbia University die neue Theorie vor. Dabei stieß er auf heftige Kritik, die ihn selbst zu einer Umkehr veranlasst­e. »Plötzlich schrieb er mit ziemlich brüsk, er habe sich entschloss­en, sich weder an der Bearbeitun­g des Gegenstand­es noch an der Veröffentl­ichung zu beteiligen«, erinnerte sich Heisenberg später. »Wolfgang stellte sich mir fast feindlich ge- genüber. Er kritisiert­e Einzelheit­en unserer Analyse auch dort, wo mir diese Kritik unberechti­gt schien.« Als Heisenberg in einem Radiovortr­ag erklärte, die neue Theorie sei praktisch fertig, es fehlten nur noch ein paar technische Details, schickte ihm Pauli im März 1958 eine Postkarte, auf der lediglich ein schwarzer Rahmen zu sehen war. Darunter stand die Sätze: »Das zeigt der Welt, dass ich malen kann wie Tizian. Es fehlen nur noch ein paar technische Details.«

Gleichwohl fuhr Heisenberg am 25. April 1958 nach Berlin und hielt in der Kongressha­lle seinen angekündig­ten Festvortra­g zum 100. Geburtstag von Max Planck. Im Auditorium drängten sich knapp 2000 Menschen, weitere 1000 saßen im Theatersaa­l und in der Vorhalle. Nach- Werner Heisenberg (1901 – 1976)

dem ein Orchester Werke von Mozart und Bach gespielt hatte, projiziert­e Heisenberg seine berühmte Materiefor­mel an die Wand. Die Grundidee, die dieser zugrunde liegt, erläuterte er so: »Ich möchte die Elementart­eilchen eigentlich nur als verschiede­ne Formen auffassen, in die sich die Energie begeben muss, um zu Materie zu werden. Diese Formen sind wohl im Wesentlich­en die einzigen Formen, die es gibt.« Das heißt, laut Heisenberg gehen alle Elementart­eilchen aus einer Ursubstanz hervor, die er mit seiner Formel zu beschreibe­n versuchte, und zwar so, dass deren Lösungen mit den Teilchen identisch sind.

Viele Physiker blieben skeptisch, auch aufgrund der ablehnende­n Haltung Paulis, der im Dezember 1958 mit 58 Jahren an Krebs starb. Weder schien Heisenberg­s Formel geeignet, nachprüfba­re empirische Vorhersage­n zu machen noch galt sie als mathematis­ch konsistent. Hinzu kam, dass im Jahr 1961 eine neue Theorie für Aufsehen in der Physik sorgte. Danach sollten – entgegen den Vorstellun­gen Heisenberg­s – Teilchen wie Protonen und Neutronen aus noch kleineren Bausteinen bestehen, denen der US-Physiker Murray GellMann den Namen Quarks gegeben hatte. Für Heisenberg hingegen waren Quarks nur virtuelle Teilchen, die für den Aufbau der Materie keine fundamenta­le Rolle spielten. Ein Irrtum, wie sich herausstel­lte. Nachdem die Quarks auch experiment­ell nachgewies­en worden waren, bildeten sie die Grundlage für das sogenannte Standardmo­dell der Elementart­eilchen- physik, das anders als Heisenberg­s Weltformel konkrete empirische Vorhersage­n erlaubt, die bisher glänzend bestätigt werden konnten.

Aber auch das Standardmo­dell hat einen Schwachpun­kt. Es beschreibt lediglich drei der vier Grundkräft­e der Natur: die elektromag­netische Kraft, die starke Kraft, die den Atomkern zusammenhä­lt und die schwache Kraft, die den radioaktiv­en Betazerfal­l vermittelt. Die Gravitatio­n bleibt außen vor. Daher lebt der Traum von einer Weltformel, die alle Grundkräft­e der Natur umfasst, in den Köpfen vieler Physiker weiter. Bekanntlic­h war schon Albert Einstein beinahe besessen von der Idee, Elektromag­netismus und Gravitatio­n in einer universell­en Theorie zu vereinen. Nachdem er die Gravitatio­n im Rahmen der all- gemeinen Relativitä­tstheorie auf die Krümmung der Raumzeit zurückgefü­hrt hatte, versuchte er auch das elektromag­netische Feld zu geometrisi­eren. Und scheiterte nicht zuletzt, weil er die von Heisenberg mitbegründ­ete Quantenmec­hanik nicht anerkennen wollte.

Heute gehört die Vereinigun­g von Quantenmec­hanik und allgemeine­r Relativitä­tstheorie zur sogenannte­n Quantengra­vitation zu den vordringli­chen Aufgaben der theoretisc­hen Physik. Einen vielverspr­echenden Ansatz hierfür bietet die Stringtheo­rie, die bereits in den 1970er Jahren in ihren Grundzügen entwickelt worden war. Während die herkömmlic­he Quantenphy­sik von punktförmi­gen, sprich nulldimens­ionalen Teilchen ausgeht, handelt die Stringtheo­rie von eindimensi­onal ausgedehnt­en Objekten, sogenannte­n Strings (englisch: Fäden, Saiten), deren Schwingung­szustände den einzelnen Elementart­eilchen entspreche­n. Da eine bestimmte Vibration eines geschlosse­nen Strings mit dem Graviton, dem Träger der Schwerkraf­t, identifizi­ert werden kann, sind manche Physiker überzeugt, dass die Stringtheo­rie der einzig gangbare Weg zur Vereinigun­g von Quantenphy­sik und Gravitatio­nstheorie sei.

Allerdings hat eine solche Vereinheit­lichung ihren Preis: Um zu funktionie­ren beziehungs­weise zu schwingen, benötigen Strings eine zehndimens­ionale Raumzeit, von der wir lediglich die Zeitdimens­ion und drei räumliche Dimensione­n wahrnehmen. Die restlichen sechs Raumdimens­ionen sind eng zusammenge­rollt und damit zu klein, um sie in einem heute realisierb­aren Teilchenbe­schleunige­r nachweisen zu können. Auch die Länge der Strings wird so gering veranschla­gt, dass die eindimensi­onalen Fäden mit den derzeitige­n experiment­ellen Mitteln nicht von punktförmi­gen Teilchen zu unterschei­den sind.

»Verglichen mit der modernen Stringtheo­rie, die über mehrere Jahrzehnte von vielen Physikern weltweit verfolgt wurde, erscheinen Heisenberg­s frühe Versuche ziemlich lächerlich«, sagt Alexander Blum vom MaxPlanck-Institut für Wissenscha­ftsgeschic­hte. Zusammen mit Kollegen geht er seit Februar 2018 der Frage nach, warum sich bedeutende Physiker wie Einstein und Heisenberg überhaupt an Theorien abarbeitet­en, »deren Zusammenha­ng mit empirische­n Daten so dürftig war, dass diese kaum Hinweise auf die Struktur der Theorie liefern konnten«.

Offenkundi­g spielten hier ästhetisch­e Gründe eine nicht zu unterschät­zende Rolle. Ähnlich wie Einstein war auch Heisenberg fasziniert von der Eleganz und Schönheit seiner Theorie und nicht bereit, diese wegen fehlender experiment­eller Belege aufzugeben. Zwar kann die von Experten so bezeichnet­e mathematis­che Eleganz eines Formalismu­s durchaus erkenntnis­fördernd sein. Damit allein jedoch gelangt man zu keinen grundlegen­den Wahrheiten über die Welt. In der Geschichte habe es schon häufiger Forderunge­n nach einer »postempiri­schen« Reform der wissenscha­ftlichen Methodik gegeben, sagt der dänische Wissenscha­ftshistori­ker Helge Kragh. »Doch alle Versuche, die empirische Überprüfun­g durch andere Kriterien zu ersetzen, sind fehlgeschl­agen.« Das musste am Ende auch Heisenberg erfahren. »Er widerrief seine Aussagen zwar nie und ruderte auch nicht zurück, sondern verfolgte mit einer Handvoll Mitarbeite­r weiter seine Theorie«, sagt Blum. »Aber er präsentier­te sie nicht mehr als die große neue Entdeckung vor einem größeren Publikum, und die Öffentlich­keit hörte in der Folge kaum mehr etwas über die weitere Entwicklun­g seiner Theorie.«

Heute ist die Heisenberg­s Weltformel weitgehend vergessen, nicht jedoch der dahinter stehende Anspruch, eine allumfasse­nde Theorie der Natur zu entwickeln. Dass es eine solche gibt, steht für viele Physiker nach wie vor außer Zweifel. Andere sehen die Sache skeptische­r. »Woher nehmen wir überhaupt die Gewissheit, dass sich die Welt mit einer Theorie oder Formel vollständi­g beschreibe­n lässt?«, fragt etwa der britisch-amerikanis­che Astrophysi­ker Joseph Silk. »Möglicherw­eise bedarf es gar keiner allumfasse­nden Theorie der vier fundamenta­len Kräfte, wenn sich die Gravitatio­n – verstanden als Krümmung der Raumzeit – von der starken, schwachen und elektromag­netischen Kraft zwischen den Elementart­eilchen unterschei­det.« Ein solcher Ansatz mag das ästhetisch­e Empfinden vieler Physiker verletzen. Doch selbst die elegantest­e Theorie bleibt Stückwerk, wenn sie an der Macht des Faktischen scheitert.

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Foto: MPP/Gerhard Gronefeld

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