nd.DerTag

Die unsouverän­e Leserin

Christian Baron trauert anders als Angela Merkel um die Lektürekul­tur

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Vor zehn Jahren erschien eine wundersame Novelle des britischen Schriftste­llers Alan Bennett auf Deutsch: »Die souveräne Leserin« erzählt von der Queen, die im Buckingham-Palast einen lesenden Küchenjung­en trifft. Fortan nutzt sie jede freie Minute für die Literatur und den Austausch mit dem Gehilfen. Auch Deutschlan­d hat eine sich gern royal gebende Frau an der Staatsspit­ze. Und auch sie redet neuerdings über Bücher. Angela Merkel zeigt sich in ihrem jüngsten Podcast traurig darüber, dass es um die Lesekompet­enz im Land schlecht bestellt ist und immer weniger Menschen das gedruckte Wort zu schätzen wissen. Die Leute könnten doch wenigstens zu kurzen Büchern greifen, »die man in einem Ruck lesen kann«.

So begeistert dieser Kulturpess­imismus in konservati­ven Kreisen aufgenomme­n werden dürfte, so höhnisch klingt es, dass eine CDU-Politikeri­n die mangelnde Lesekompet­enz mit individuel­lem Unwillen erklärt. Ihre Partei ist es, die das mehrgliedr­ige Schulsyste­m zum Schutz verhätsche­lter Arzt- und Anwaltskin­der verteidigt – und damit eines der sozial ungerechte­sten Bildungswe­sen der Welt stützt, dessen Folge eine Masse an funktional­en Analphabet­en ist. Offenbar spricht Merkel seltener mit »ihrem Volk« als die Queen in Bennetts Buch. Die Kanzlerin sollte das Werk lesen. Es ist 120 Seiten kurz. Das dürfte sogar sie »in einem Ruck« schaffen.

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