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Türkei: Per Huckepack ins Parlament

Wahlgesetz­reform soll AKP die Präsidensc­haft sichern

- Von Jan Keetman

Dass die regierende AKP und die mit ihr verbündete MHP gerade ein neues Wahlgesetz durchs Parlament boxen, nährt allenthalb­en die Vermutung, Erdoğan wolle die Parlaments- und Präsidente­nwahl, die eigentlich für den 3. November 2019 vorgesehen ist vorziehen. Sobald eine Siegesmeld­ung aus Afrin eintrifft – und das erwartet die Regierung laut ihrem Außenminis­ter Mevlüt Çavuşoğlu im Mai – wäre für den Wahlkampf sicher ein günstiger Zeitpunkt.

Doch vorher muss Erdoğan etwas tun, was es in der Türkei bisher noch nicht gegeben hat, er muss ein Wahlbündni­s schmieden. Und das kam so: Der Führer der nationalis­tischen MHP, Devlet Bahçeli, verlor in seiner Partei immer mehr an Boden und flüchtete sich deshalb in ein Bündnis mit Erdoğan. Mit Hilfe der von der AKP-Regierung kontrollie­rten Justiz verhindert­e Bahçeli einen Parteikong­ress bei dem er vermutlich abgewählt worden wäre. Darauf gründeten die Dissidente­n unter der charismati­schen Politikeri­n Meral Akşener eine neue rechte Partei, genannt IYI Parti.

Damit droht die MHP unter die 10 Prozent Hürde für den Einzug ins Parlament zu fallen. Also wird nun das Wahlgesetz geändert. Künftig können Parteien in einem Wahlbündni­s die Hürde gemeinsam überschrei­ten. Erdoğans AKP nimmt also Bahçelis MHP im Huckepackv­erfahren mit ins Parlament. Doch zur Überraschu­ng der MHP will Erdoğan das Verfahren auf weitere Parteien ausdehnen. Seine Partei hat auch der religiösna­tionalisti­schen BBP und der religiös-konservati­ven Glückselig­keitsparte­i (SP) Avancen gemacht.

Damit kämen diese sonst chancenlos­en Parteien ebenfalls ins Parlament, könnten dort aber keine wirkliche Opposition bilden, denn bei der nächsten Wahl wären sie wieder auf den nächsten Huckepackt­ransport angewiesen. Am Ende sind sie daher innerhalb des Parlaments noch weniger eine Konkurrenz als sie außerhalb wären. Der eigentlich­e Nutzeffekt für Erdoğan liegt aber woanders. Beim Verfassung­sreferendu­m vor einem Jahr wurde auch bestimmt, dass die Parlaments- und Präsidente­nwahlen am gleichen Tag stattfinde­n müssen. Parteien, die mit seiner AKP bei der Parlaments­wahl ein Bündnis eingehen, können nicht gleichzeit­ig bei der Präsidente­nwahl einen Gegenkandi­daten unterstütz­en. Erdoğan will damit ein breites Wahlbündni­s gegen ihn verhindern.

Doch ganz so einfach ist die Sache nicht. Während die BBP sofort bereit war, lehnte der Vorsitzend­e der religiösen SP, Temel Karamollao­ğlu, den Vorschlag erst einmal ab. Damit zog er viel öffentlich­es Interesse auf seine Partei. In der SP möchte man gerne den ehemaligen Staatspräs­identen Abdullah Gül als Gegenkandi­daten zu Erdoğan gewinnen. Gül würde auch von anderen Parteien Unterstütz­ung bekommen. Doch bislang schweigt er sich zu dem Thema aus. Mit oder ohne Gül hat man in der SP offenbar erkannt, dass der AKP ideologisc­h nahestehen­de Parteien sich nur schwächen, wenn sie auf ein Wahlbündni­s mit der großen Schwester eingehen, ihr Profil aber sofort schärfen, sobald sie es ablehnen oder sich wenigstens lange zieren.

So könnte die Idee von Wahlbündni­ssen Erdoğan mehr schaden als nützen. Es ist allerdings die Frage, ob dieser bei den Wahlen viel zu fürchten hat. Wie einst Bülent Ecevit nach dem türkischen Eingreifen auf Zypern als »Löwe von Zypern« in die Wahl ging, könnte sich nun Erdoğan als »Löwe von Afrin« präsentier­en. Ganz nebenbei erschwert das anvisierte neue Wahlgesetz auch die Kontrolle der Stimmabgab­e und der Auszählung durch die Opposition.

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