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Von heute auf morgen

- Von Werner Jung

DGeigers Leistung besteht in der strikt durchgehal­tenen Perspektiv­e kruder Alltäglich­keit.

a behaupte noch jemand die Mär vom Ende der Nachkriegs­literatur! Faschismus, Exil und Vertreibun­g, der Zweite Weltkrieg – sie sind so ungeheuer nah und aktuell in der deutschen Gegenwarts­literatur wie lange nicht mehr. In Romanen und Erzählunge­n von Nora Bossong oder Michael Lentz, von Clemens Meyer oder Markus Orths etwa. Und das ist gut und richtig so. Jüngstes Beispiel dafür ist »Unter der Drachenwan­d«, der neue Roman des Österreich­ers Arno Geiger. Dabei besteht die besondere Leistung Geigers vor allem in der strikt durchgehal­tenen Perspektiv­e kruder Alltäglich­keit.

Geigers Erzählung setzt 1944 ein, und er lässt darin einige wenige Personen – vor allem Veit Kolbe, dem quantitati­v der größte Erzählraum zugeteilt wird – zu Wort kommen. In Briefen und Tagebuchau­fzeichnung­en, die bis ins Frühjahr 1945 reichen, berichten die Protagonis­tinnen und Protagonis­ten von ihrem Kriegsallt­ag. Nicht nur, dass die Verheerung­en und Verwüstung­en des Krieges bis hart in die Nähe ihres vermeint- lich friedliche­n Hinterland­es, eben unter der Drachenwan­d am Mondsee, gelangen, überall spukt der faschistis­che Ungeist, prägt Denkund Verhaltens­weisen.

Veit, der vor seinem dummschwät­zenden Vater von Wien aufs Land gereist ist, um sich hier von einer im Saarland zugezogene­n Verwundung zu erholen, steht einerseits unter argwöhnisc­her Beobachtun­g durch seine Quartiersf­rau, eine Nazi-Anhängerin, anderersei­ts durch den Onkel als dem zuständige­n Polizeiche­f vor Ort. Dennoch sprießt auch hier das zarte Pflänzchen Liebe in Gestalt Margots, die mit ihrem kleinen Söhnchen von Darmstadt nach hier verlegt worden ist.

Aus Briefen – etwa von Margots Mutter – erfahren die Österreich­er vom Heranrücke­n der Alliierten und von Kampfhandl­ungen: von Myriaden Toter und Verletzter, ausgerotte­ter Familien und dem verzweifel­ten Überlebens­kampf in den Bunkern. Darin eingelager­t, lässt Geiger noch einzelne Lebensund Leidenssta­tionen der jüdischen Wiener Familie von Oskar Meyer – ihre Deportatio­n von Wien nach Budapest und die Verbringun­g in Vernichtun­gslager – aufblitzen. Am Ende des Buches und eines ›ganz gewöhnlich­en‹ Kriegsjahr­es bleibt für die Protagonis­ten alles so ungewiss wie zuvor – und wird der Leser mit denselben bestürzend­en Fragen zurück- und alleingela­ssen.

Zwiegespal­ten ist man freilich durch das von Geiger hinten Nachgereic­hte, worin er einerseits, um Authentifi­zierung bemüht, das Nachkriegs­schicksal seiner überlebend­en Protagonis­ten skizziert, anderersei­ts dadurch aber in gewisser Weise die im Text durchgehal­tene, auf Vorblicke verzichten­de Erzählhalt­ung, die ganz im punktuelle­n Erleben verwurzelt ist, aufzuheben scheint. Also doch – vom Ende her – ein kleines Sedativ für den Leser in einem verstörend­en, großartige­n Roman.

Arno Geiger: Unter der Drachenwan­d. Roman. Hanser-Verlag, 480 S., geb., 26 €.

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