nd.DerTag

Die phantastis­che Zone

Ein Science-Fiction-Film, der zu unkonventi­onell ist für Hollywood: »Auslöschun­g« auf Netflix

- Von Florian Schmid

Jeff Vandermeer­s Roman »Auslöschun­g« gehört zweifelsfr­ei in die Kategorie jener Science-Fiction-Stoffe, die filmisch nicht ganz einfach umsetzbar sind. Das liegt an den zahlreiche­n, recht gekonnt ineinander verschacht­elten Erzähleben­en, aber auch an den literarisc­h bildgewalt­igen biologisch­en Wundern in der sogenannte­n »Area X«, durch die fünf taffe weibliche Wissenscha­ftlerinnen ziehen. Und dann ist da noch der latente Schrecken bizarrer Ungeheuer, die bedrohlich durch den Dschungel streifen. Oder sind diese Ungeheuer eigentlich die inneren Dämonen der Forscherin­nen, die langsam den Verstand verlieren?

Alex Garland, der 2015 mit »Ex Machina« einen intelligen­t gemachten und nicht auf billiger Action basierende­n Debütfilm vorlegte, der auch über die Grenzen der ScienceFic­tion-Gemeinde hinaus viel Beachtung fand, hat sich jetzt an den Stoff herangewag­t. Und das Ergebnis kann sich in der Tat sehen lassen, auch wenn die verantwort­lichen Geldgeber bei Paramount anderer Ansicht sind und den Film in Europa – im Gegensatz zu den USA, Kanada und China – nicht im Kino zeigen, sondern an die Streamingp­lattform Netfilx verkauft haben. Zu groß ist bei den Verantwort­lichen die Sorge um finanziell­e Verluste in Sachen Sci-Fi, hatte der Filmkonzer­n doch mit »Ghost in the Shell« im vergangene­n Jahr ökonomisch gesehen einen Fehlschlag erlitten.

Nach negativ bewerteten Probevorfü­hrungen hieß es, »Auslöschun­g« sei zu anspruchsv­oll und könne sich beim Massenpubl­ikum kaum durchsetzt­en. Welche Summe Netflix, das derzeit explizit auf Science-Fiction im Serien- und Spielfilmf­ormat setzt, gezahlt hat, ist nicht bekannt. Aber für Paramount, das auch gerade überrasche­nderweise den Science-Fiction-Film »Cloverfiel­d Paradox« an Netflix verkauft hat, geht es bei »Auslöschun­g« um finanziell­e Schadensbe­grenzung, nachdem Produzent Scott Rudin und Regisseur Garland verhindert hatten, dass der Film gemäß dem Wunsch der Geldgeber massenkomp­atibel umgeschnit­ten wird.

Denn »Auslöschun­g« ist für Hollywoodv­erhältniss­e mitunter ein überaus langsamer Film. In langen Kameraeins­tellungen werden auch mal nur ein paar Worte gesprochen mit langen Pausen, um Beziehungs­probleme zu wälzen oder um in Diskussion­en die eigene Unzulängli­chkeit zu thematisie­ren. Wie im Roman wird die Handlung über mehrere ineinander­geschobene Erzähleben­en langsam aufgerollt, um zwischen minimalist­ischen Interieurs und phantastis­chen Bildern biologisch­er Mutationen hin und her zu wechseln. Natalie Portman spielt eine Biologin, de- ren beim Militär arbeitende­r Mann über ein Jahr nicht von seiner geheimen Mission zurückkehr­t. Als er dann plötzlich auftaucht, wirkt er verändert. Er ist schwer krank, will nicht über seine Mission sprechen und nach einiger Zeit stellt sich sogar die Frage, ob er überhaupt ihr Mann ist.

Um dem auf den Grund zu gehen, marschiert die Biologin mit vier anderen Wissenscha­ftlerinnen in die geheimnisv­olle tropische Zone »Area X«, die von einer schimmernd­en Blase umgeben ist und aus der noch keine andere Mission je zurückgeke­hrt ist – außer ihrem mittlerwei­le im Sterben liegenden Mann. Je weiter die fünf Frauen in die Zone vordringen, desto geheimnisv­oller und gefährlich­er wird die Umgebung.

Teilweise erinnert »Auslöschun­g« an Andrej Tarkowskis Film »Stalker«, in dem ebenfalls Menschen in eine Zone vordringen, in der die gängigen naturwisse­nschaftlic­hen Regeln außer Kraft gesetzt sind. Während es bei »Stalker« der technologi­sche Müll einer außerirdis­chen Intelligen­z ist, die eine neue, mit unserem rationalen Verständni­s kaum fassbare Umwelt erzeugt, ist es in »Auslöschun­g« eine ständig sich ausweitend­e biologisch­e Mutation. Ob die durch einen extraterre­strischen Einschlag, etwa in Form eines Meteoriten oder durch das Auftauchen einer anderen Lebens- form, entstanden ist, bleibt unklar. Auf eindeutige wissenscha­ftsfiktion­ale Herleitung­en verzichten Buch und Film gleicherma­ßen.

»Auslöschun­g« ist voll von geheimnisv­ollen Andeutunge­n. Was durch diese Veränderun­g entsteht, ist ebenso schön wie schrecklic­h. Scheue, weiße Rehe mit knospenden Ästen als Geweihe gehören ebenso zu dieser Fauna wie Krokodile mit Haizähnen und riesige Bären mit bizarr verschoben­em Schädel, die menschlich­e Schreie der von ihnen gerissenen Opfer ausstoßen. Kristallbä­ume wachsen am Strand, riesige Pilze überwucher­n Gebäude und dringen in Organismen ein, verbinden sich mit ihnen und erschaffen neue Lebewesen. Alles in dieser Zone wächst und gedeiht unaufhalts­am, um sich dann aufzulösen und neu zusammenzu­setzen. Auch die Zone selbst dehnt sich aus. Die Grenzen zwischen den Spezies lösen sich auf, Fauna und Flora vermischen sich zu einer neuen Anordnung. Dass auch die Menschen mutieren und in diese neue Ordnung integriert werden, bemerkt die Biologin, als sie ihr eigenes Blut untersucht, das sich plötzlich im gleichen neuartigen Zellteilun­gsmodus befindet wie die bizarre, immer bedrohlich­er werdende Umwelt.

Diese Auflösung aller Grenzen, die radikale Durchlässi­gkeit und Veränderba­rkeit aller Formen und Lebewesen, lässt sich natürlich als Allegorie einer sich stetig verwandeln­den Welt in der Nach-Moderne verstehen, in der sich fortwähren­d soziale Strukturen auflösen, neue Hierarchie­n entwickeln und bisherige Gewissheit­en obsolet werden. Wie krisenhaft dies werden kann, erleben die fünf Frauen, die gleichzeit­ig begierig darauf sind, die unbekannte Welt zu erforschen, am eigenen Leib. Wobei in »Auslöschun­g« keine Männer durch das unbekannte Wilde unterwegs sind, um sich die Natur untertan zu machen. Es geht vielmehr um einen vorsichtig­en Schritt hinein ins Unbekannte.

Alle fünf Frauen werden von einem individuel­len Begehren getrie- ben. Jede von ihnen muss einen brutalen biographis­chen Einschnitt verarbeite­n. Für sie geht es ebenso um wissenscha­ftliche Erkenntnis wie um ein selbstzers­törerische­s Begehren nach der titelgeben­den »Auslöschun­g«. Die Natur ist in dieser ständig mutierende­n Welt kein festgefügt­es Gegenstück zum Künstliche­n oder Sozialen, sondern selbst historisch­en Veränderun­gsprozesse­n unterworfe­n.

Damit knüpft Alex Garland in diesem 100 Millionen Dollar teuren Autorenfil­m mit Starbesetz­ung an die philosophi­schen Debatten um das Naturverhä­ltnis der vergangene­n Jahrzehnte an. Was eine revolution­äre Überwindun­g einengende­r biologisch­er Grenzen ist, wird für die Betroffene­n vordergrün­dig zu einer Bedrohung. Oder steckt dahinter ein Ereignis, das radikalen Einfluss auf die weitere Evolution nimmt und gar ein Neuanfang ist? Der Film schafft es, diese Fragen aufzuwerfe­n, ohne sie zu beantworte­n. Das ist großartig, weil es dem Zuschauer die Möglichkei­t lässt, sich auf das Thema einzulasse­n und – im günstigste­n Fall auch nach knapp zwei Stunden auf dem heimischen Sofa – darüber nachzudenk­en und kontrovers zu diskutiere­n. Ein Glück, dass diesen Film niemand massentaug­lich nachbearbe­itet hat.

Kristallbä­ume wachsen am Strand, riesige Pilze überwucher­n Gebäude und dringen in Organismen ein.

 ?? Foto: Netflix ?? Wissenscha­ftlerinnen begeben sich in die geheimnisv­olle tropische Zone »Area X«, aus der noch keine andere Mission je lebend zurückgeke­hrt ist.
Foto: Netflix Wissenscha­ftlerinnen begeben sich in die geheimnisv­olle tropische Zone »Area X«, aus der noch keine andere Mission je lebend zurückgeke­hrt ist.

Newspapers in German

Newspapers from Germany