nd.DerTag

Durchfall und Brechreiz

Per Mertesacke­r beklagt die Härten des Profifußba­lls

- Von Sebastian Stiekel, Frankfurt am Main

Fußball-WM 2006, Deutschlan­d verliert in Dortmund das Halbfinale gegen Italien, die meisten Spieler liegen weinend auf dem Rasen, Millionen Fans sind tief enttäuscht. Per Mertesacke­r aber, 104-facher Nationalsp­ieler, erzählt jetzt, was er in dem Moment gedacht hat: »Vor allem war ich erleichter­t. Ich weiß es noch, als wäre es heute. Ich dachte nur: Es ist vorbei, es ist vorbei. Endlich ist es vorbei«, sagt er dem »Spiegel«.

Im Gespräch mit dem Magazin redet der 33-Jährige, der 2014 in Brasilien zur Weltmeiste­relf gehörte, kurz vor dem Ende seiner Laufbahn offen über Druck und Belastunge­n des Profifußba­lls. Der Verteidige­r des FC Arsenal erzählt, dass er noch heute vor jedem Spiel Durchfall und Brechreiz verspüre. Dass er im Nachhinein über das vermeintli­che »Sommermärc­hen« von 2006 denkt: »Der Druck hat mich aufgefress­en. Dieses ständige Horrorszen­ario, einen Fehler zu machen, aus dem dann ein Tor entsteht.« Und dass er sich nach fast 15 Karriereja­hren müde und ausgelaugt fühle. »Alle sagen, ich solle das letzte Jahr richtig auskosten.« Aber: »Am liebsten sitze ich auf der Bank, noch lieber auf der Tribüne.« Ab Sommer wird er die Leitung der Nachwuchsa­kademie seines Klubs übernehmen.

Mertesacke­rs Aussagen erzeugten heftige Reaktionen. Im Internet zollten ihm viele Kommentato­ren Respekt. Aus dem Fußballges­chäft war auch Unverständ­nis zu hören. Christoph Metzelder, 2006 Nebenmann von Mertesacke­r in der deutschen Innenverte­idigung, sagte: »Ich habe die WM überhaupt nicht so empfunden. Lothar Matthäus betonte: »Nationalma­nnschaft spielt man freiwil-

»Am liebsten sitze ich auf der Bank, noch lieber auf der Tribüne.«

Per Mertesacke­r, Ex-Fußballnat­ionalspiel­er

lig. Er hätte ja aufhören können, wenn der Druck so groß war. Wie will er einem jungen Spieler diese Profession­alität vermitteln, wenn er sagt, dass da zu viel Druck ist? Das geht nicht.«

Über Druck im Profifußba­ll wird nur in kurzen Aufmerksam­keitsschüb­en diskutiert, so nach dem Suizid des Nationalto­rwarts und Mertesacke­r-Freundes Robert Enke 2009. Mertesacke­r beklagt genau das. Die Reden über mehr Menschlich­keit im Fußball seien nur schöne Worte. Er wolle nun Talente gezielt auf die Schattense­iten des vermeintli­chen Traumberuf­es aufmerksam machen, dabei aber nicht »weinerlich klingen. Denn natürlich sind mir die Privilegie­n meines Lebens bewusst. Ich habe mir das ja so ausgesucht, keiner hat mich dazu gezwungen.«

Mertesacke­r hatte schon immer eine größere Distanz zum Profigesch­äft als viele seiner Kollegen. Bei der WM 2014 bekamen Millionen Fernsehzus­chauer einen Eindruck von seiner Anspannung, als er einem Reporter nach dem Achtelfina­lsieg gegen Algerien sagte: »Was wollen Sie jetzt von mir? Glauben Sie, unter den letzten 16 ist noch eine Karnevalst­ruppe?«

Seinen Zivildiens­t hat Mertesacke­r in einem Heim für psychisch schwerstbe­hinderte Erwachsene gemacht. Der Sport war für ihn bis kurz vor Karrierebe­ginn nicht mehr als ein Hobby. Das erklärt, warum er den Druck als besonders heftig empfand. Er war darauf nicht vorbereite­t. »Irgendwann realisiers­t du, dass das alles eine Belastung ist, körperlich und mental. Dass es null mehr um Spaß geht, sondern dass du abliefern musst, ohne Wenn und Aber. Selbst wenn du verletzt bist.«

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