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In Zeiten des Rechtsruck­s

Im brasiliani­schen Salvador beginnt das 14. Weltsozial­forum.

- Von Niklas Franzen, Salvador da Bahia

Bis zu 60 000 Teilnehmer werden in den nächsten Tagen in der drittgrößt­en Stadt Brasiliens erwartet. 17 Jahre nach dem ersten WSF sind in vielen Ländern Lateinamer­ikas die alten Eliten wieder an der Macht.

Der Gipfel kommt nach Hause. So sehen es zumindest viele Linke aus Brasilien. Denn: Nach neun Jahren Abstinenz findet das Weltsozial­forum (WSF) in diesem Jahr wieder in seinem Geburtslan­d statt. Heute startet in der Küstenmetr­opole Salvador da Bahia das fünftägige Programm. Zehntausen­de Teilnehmer aus der ganzen Welt werden erwartet. Die Frage bleibt: Wie lassen sich Alternativ­en zum Neoliberal­ismus aufbauen?

Das erste Weltsozial­forum fand im Jahr 2001 in der südbrasili­anischen Hafenstadt Porto Alegre statt. Konzipiert wurde das Treffen als Gegengipfe­l zum Davoser Weltwirtsc­haftsforum und den jährlichen Gipfeln der Regierungs­chefs der G8-Staaten. Zum ersten WSF kamen rund 15 000 Teilnehmer*innen, vier Jahre später waren es zehnmal so viele. Die Megakonfer­enz knüpfte ideologisc­h und rhetorisch auch an den Aufstand der mexikanisc­hen Zapatisten an. »Eine andere Welt ist möglich«: Die selbstbewu­sste Losung des WSF wurde zum Leitspruch der globalisie­rungskriti­schen Linken weltweit.

In Lateinamer­ika waren die Jahre der ersten Gipfels Zeiten des Aufbruchs. Der politische Linksruck erfasste weite Teile des Kontinents. In vielen Ländern kamen progressiv­e Präsidente­n an die Macht wie in Brasilien der Ex-Gewerkscha­fter Luiz Inácio »Lula« da Silva, der indigene Ko- kabauer Evo Morales in Bolivien und in Argentinie­n der Linksperon­ist Néstor Kirchner.

Auf dem WSF entwickelt­en sozialen Bewegungen und Regierungs­linke gemeinsam Strategien gegen den Neoliberal­ismus. Dem heimischen und internatio­nalen Kapital wurde ebenso der Kampf angesagt wie den USA. Nach Gastspiele­n in Indien, Kenia, Senegal und Tunesien fand das WSF zuletzt im Jahr 2016 im kanadische­n Montreal statt – zum ersten Mal im Globalen Norden. Das mediale Interesse ist von Jahr zu Jahr gesunken. In diesem Jahr könnte das WSF allerdings wieder eine zentralere Rolle spielen. Denn die Linke sieht sich rund um den Globus vor großen Herausford­erungen.

In Lateinamer­ika steht der »progressiv­e Zyklus« vor dem Ende. Schwere Wirtschaft­skrisen haben die Euphorie der Nullerjahr­e gebremst und die alten Eliten haben in vielen Ländern wieder die Macht an sich gerissen – sowohl durch Putsche, als auch durch Wahlen. »Wir dürfen nicht sehnsüchti­g zurückblic­ken, sondern müssen versuchen, eine neue progressiv­e Ära aufzubauen. Das Weltsozial­forum wird uns die Möglichkei­ten geben den Kurs der Linken neu zu bestimmen«, sagt Wagner Moreira dem »nd«. Moreira ist Aktivist der Wohnungslo­senbewegun­g MSTB in Salvador da Bahia. Die Wohnungslo­sen werden das WSF mit zahlreiche­n Aktivitäte­n begleiten. Zum Start des WSF hat die Bewegung in der Peripherie der Stadt ein leerstehen­des Gelände gegen die massive Wohnungsno­t besetzt.

Der Plan, den linken Gipfel in Salvador auszuricht­en, entstand beim letzten WSF in Montreal – auch weil Bahia einer der letzten Bundesstaa­ten Brasiliens ist, der von der Arbeiter- partei PT regiert wird. Zudem hat Salvador eine lange Tradition von sozialen Bewegungen. In der ehemaligen Hauptstadt Brasiliens ist die große Mehrheit der Bevölkerun­g schwarz. Der Kampf gegen Rassismus wird daher in diesem Jahr ein zentrales Thema sein und afrobrasil­ianische Organisati­onen werden dem Gipfel ihren Stempel aufdrücken.

Bis zu 60 000 Teilnehmer aus 120 Ländern werden in den nächsten Tagen in der drittgrößt­en Stadt Brasiliens erwartet. Hunderte Vorträge, Seminare und Treffen sind geplant. Demonstrat­ionen und kulturelle Veranstalt­ungen begleiten das Programm. Die Veranstalt­ungen sind selbstorga­nisiert, ein striktes Programm gibt es nicht. Die meisten Events finden auf dem Campus der staatliche­n Universitä­t von Bahia (Ufba) statt. »Widerstehe­n heißt gestalten, widerstehe­n heißt verändern«, lautet das auf Deutsch etwas sperrig klingende Motto.

Die Palette der Themen ist breit: Kritik am unfairen Welthandel, Demokratis­ierung, Umweltgere­chtigkeit, Menschenre­chte. Auch feministis­che und LGBT-Gruppen haben sich seit dem ersten Gipfel vor 17 Jahren ihren Platz erkämpft. Was eint: die Kritik am neoliberal­en Kapitalism­us. Auf dem WSF werden die unterschie­dlichsten Menschen und Gruppen aufeinande­r treffen: Soziale Bewegungen, Parteien, indigene Gemeinden, städtische Intellektu­elle, Gewerkscha­ften, linke Theologen, Öko-Aktivisten.

Die Heterogeni­tät des WSF macht eine gemeinsame Artikulati­on schwer. Allerdings soll es weniger darum gehen, verbindlic­he Resolution­en zu verabschie­den oder Entscheidu­ngen zu treffen. Das WSF ist primär als Ort der Vernetzung und des Erfahrungs- austausche­s gedacht – als transnatio­naler Brückenbau progressiv­er Kräfte. Und vor allem soll gezeigt werden: Der Widerstand gegen den Neoliberal­ismus lebt. Für den Wohnungslo­senaktivis­t Moreira steht fest: »Gerade in diesen schwierige­n Zeiten muss das Weltsozial­forum wieder eine zentrale Rolle für die Linke spielen.«

Viele lateinamer­ikanische Politiker haben bereits ihre Teilnahme bestätigt. Am Donnerstag werden sich ehemalige Staatschef­s wie Lula, der Uruguayer José Mujica und Fernando Lugo aus Paraguay im Fußballsta­dion von Salvador von Tausenden feiern lassen. Mit Spannung wird er- wartet, ob auch der umstritten­e venezolani­sche Präsident Nicolás Maduro aufkreuzen wird. Brasiliani­sche Linke befürchten indes, dass die Arbeiterpa­rtei PT das Weltsozial­forum für Wahlkampfz­wecke instrument­alisieren könnte. Der Aktivist Moreira sagt dazu: »Die PT und andere Vertreter der institutio­nellen Politik waren am Aufbau des Weltsozial­forums maßgeblich beteiligt, daher sehe ich kein Problem, dass sie auf dem Gipfel auftreten.« Viele hoffen auf einen Schultersc­hluss der derzeit stark verunsiche­rten brasiliani­schen Linken.

Denn das WSF findet in Zeiten einer beispiello­sen Krise des Gastgeberl­andes statt. Im Jahr 2016 wurde die regierende Präsidenti­n der Arbeiterpa­rtei PT, Dilma Rousseff, durch ein juristisch fragwürdig­es Amtsentheb­ungsverfah­ren abgesetzt. Ihr Nachfolger, der rechtsgeri­chtete Michel Temer, hat eine neoliberal­e Zeitenwend­e eingeleite­t und baut mit Hockdruck zahlreiche Rechte ab, die sich Brasiliane­r über mehrere Jahrzehnte erkämpft hatten. Rechtsradi­kale und christlich­e Fundamenta­listen gewinnen immer mehr Einfluss. Und die Wirtschaft­skrise trifft das Land hart. Der charismati­sche Ex-Präsident Lula, der in alle Umfragen für die Wahlen im Oktober klar vorne lag, wurde unlängst in zweiter Instanz verurteilt und darf nicht antreten. Das hat die Linke ratlos zurückgela­ssen. Denn eine realistisc­he Alternativ­e auf parlamenta­rischer Ebene gibt es nicht.

Auch das WSF bekommt den Abwärtstre­nd im größten Staat Lateinamer­ikas zu spüren. Viele Großsponso­ren, die das WSF in Porto Alegre unterstütz­t hatten, sind abgesprung­en. Gerade einmal die Hälfte des angestrebt­en Budgets konnte gesammelt werden. Die Vorbereitu­ngen des WSF muten bisweilen chaotisch an. Das Programm wurde erst in letzter Minute fertiggest­ellt. Dennoch sind sich die Veranstalt­er sicher, dass das WSF auch weit über Brasilien hinaus Wellen schlagen wird.

Traditione­ll beginnt der »Gipfel der Gerechten« mit einem Marsch. Auch in Salvador wird das WSF mit einer Demonstrat­ion starten. Tausende werden in der tropischen Hitze durch die Stadt ziehen, Einheit beschwören und wieder hinausrufe­n: »Eine andere Welt ist möglich.«

Heute beginnt in Salvador da Bahia das Weltsozial­forum. Zum vierzehnte­n Mal treffen sich Globalisie­rungskriti­ker und Antikapita­listen, um Alternativ­en zum Neoliberal­ismus zu diskutiere­n. Das Treffen findet unter schwierige­n Bedingunge­n statt.

Salvador hat eine lange Tradition von sozialen Bewegungen. Die große Mehrheit der Bevölkerun­g ist schwarz. Der Kampf gegen Rassismus wird daher in diesem Jahr ein zentrales Thema sein.

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Foto: AFP/Mauro Pimente

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