nd.DerTag

Revolte und Vereinsleb­en

Wie uns der Fotograf Robert Lebeck eine Korrektur des gewohnten Blicks zurück ermöglicht

- Von Tom Strohschne­ider

Die Fotos von Robert Lebeck weiten den Blick auf 1968.

April 1968: Die Welt ist im Umbruch. Der Fotograf Robert Lebeck war kein Parteigäng­er des Aufbruchs. Seine Bilder, die jetzt in Wolfsburg zu sehen sind, sind privater, intimer – und gerade deshalb politisch. Dieses Foto: Gretchen und Rudi Dutschke auf der Rückbank eines Cabrio, im Hintergrun­d ein Stück Prag in Licht getaucht, das Prag des Frühlings von 1968, der zu dieser Zeit noch einer war; das Gesicht der westdeutsc­hen Studentenb­ewegung hat den Kopf zur Seite geneigt, halb liegt er auf dem Arm, halb greift dieser über an die Schläfe; am unteren Bildrand sieht man noch einen Fotoappara­t in seiner Hand, Gretchen schaut, sich an der Lehne des Vordersitz­es abstützend, wie abwesend auf Dutschke, der Mund deutet ein kommendes Lächeln an.

Es ist Anfang April 1968. Eine Welt im Umbruch. Das Foto aus Prag kann den rasenden Lauf der Geschichte nicht aufhalten. Ein paar Tage später überlebt Dutschke in Berlin nur knapp das Attentat auf ihn vor dem SDS-Büro am Kurfürsten­damm. Ein Mordanschl­ag, der vieles ändert, der auch die Richtung der Aufmerksam­keit umlenkt.

Irgendwann zwischen jenem 3. April, an dem Dutschke im Philosophi­schen Seminar der Karls-Universitä­t zu tschechosl­owakischen Studenten spricht, und dem 11. April, an dem der Hilfsarbei­ter Josef Bachmann die drei Schüsse abdrückt, Munition aus Springer-Schlagzeil­en, wird der Film, den der Fotograf Robert Lebeck aus Prag mitbringt, im Labour entwickelt. Der Fotoreport­er ist da längst auf dem Sprung zur nächsten Reportage: erst eine Industriel­len-Beerdigung in Wolfsburg; dann ein Shooting mit Diana Rigg und Curd Jürgens bei Dreharbeit­en in Venedig, später ein Fototermin mit Erich Maria Remarque zu dessen 70. Geburtstag. Hunderte Fotografie­n, die Lebeck für den »Stern« aus Prag mitgebrach­t hat, bleiben in der Redaktion liegen, fast alle für immer.

Was die Bilder erzählten, war nicht mehr das, wovon die Illustrier­te erzählen wollte. Oder, die Aktualität­sschere im Kopf macht schnipp, glaubte, nicht mehr erzählen zu können.

Lebeck, geboren 1929 in Berlin, hat einmal gesagt: »Das Jahr der Studentenu­nruhen fand ohne mich statt«. In einer bestimmten Weise mag das richtig sein. Lebeck gehörte nicht der Generation an, die bis heute die Jahreszahl als Signum an sich herumträgt. Er war auch nicht in dem klassische­n Sinne ein Parteigäng­er des Aufbruchs wie andere seiner Generation, er habe, sagt Lebeck, »die Sache einfach nicht ernst nehmen« können.

Und doch führt Lebecks Satz in die falsche Richtung. Gerade weil es keine dieser zu Ikonen gewordenen Bilder von 1968 sind, die er von seinen Reportagen mitbrachte und die jetzt im Wolfsburge­r Kunstmuseu­m zu sehen sind. Es sind Fotografie­n, die eine Korrektur unseres eingeübten, gewohnten Blicks zurück ermögliche­n.

Eine Ebene dieser Korrektur könnte als Ausweitung des Horizonts beschriebe­n werden – hierbei rücken Lebecks Arbeiten die Tatsache wieder in den

Blick, dass 1968 nicht nur »Studentenb­ewegung« in ein paar Ländern »des Westens« war, sondern eben viel mehr. Eine ganze Welt drehte sich weiter. Und nicht überall nach der Melodie von »1968«.

Lebeck besucht eine Kinder-Militäraka­demie in den USA: Lachende Jungen zielen mit ihren Gewehren direkt in das Objektiv – ein Bild wie die Rückseite von Fotografie­n der Proteste gegen den Vietnamkri­eg. Lebeck besucht mit Paul VI. Kolumbien: die erste Reise eines Papstes nach Lateinamer­ika – und eine Erinnerung daran, dass eine Kirche, die reaktionär in der Sexualmora­l ist, fortschrit­tlich ökonomisch­e Ungleichhe­it anprangern kann. Lebeck fährt 1968 nach Nordirland, um die wachsenden Spannungen zwischen protestant­ischen und katholisch­en Wohnvierte­ln zu dokumentie­ren – eine seiner frühesten Farbserien, die aber erst viel später im »Stern« gedruckt werden.

Eine andere Ebene der Korrektur, die Lebecks Bilder im eigenen visuellen Gedächtnis ermögliche­n, verläuft vertikal – sie präzisiere­n den Blick in jene Zeit des großen Umbruchs, indem sie die Kraft des kleinen Alltags dokumentie­ren. Eine fast soziologis­ch anmutende Serie zum 30. »Geburtstag« von Wolfsburg zeigt Schützenve­rein, Retortenst­adt, Jugendenga­gement und Fabrikreal­ität, ohne dass diesen Bildern schon der Stempel »1968« aufgeprägt ist.

Auf einer dritten Ebene der Korrektur des Rückblicks, die uns Lebecks Bilder erlauben, geht es um die Gewichtung von Ereignisse­n im zeitlichen Verlauf. Seine Freigang-Reportage mit der wegen Totschlag verurteilt­en Gisela Kreutzmann, die die Ehefrau ihres Liebhabers erschossen und darüber von Martin Walser quasi »betreut« ein Buch im Knast geschrie- ben hatte, schildern eine Auseinande­rsetzung zwischen Familienmo­ral, von Erniedrigu­ng in der Ehe und Freiheitss­ehnsucht – noch bevor die Politisier­ung des Privaten zum Markenzeic­hen des Aufbruchs von »1968« geronnen war.

Ähnlich die Serie selbstbewu­sster Frauen, die nach der Scheidung zwar alleinerzi­ehend, aber doch glücklich sind, deren Abdruck im »Stern« zwar darauf deutet, dass hier und verbunden mit dem Signum »1968« eine Emanzipati­on stattfinde­t, die aber schon viel länger laufen muss, denn geschieden sind die Frauen ja schon früher. Was man sieht, ist bereits das Resultat eines gesellscha­ftlichen Modernisie­rungsproze­sses, wenn auch dieser in Lebecks Fotografie­n zunächst als ein rein privater erscheint – keine der berufstäti­gen Frauen ist beim Arbeiten zu sehen, die Bilder schildern nur die Vertrauthe­it der häuslichen Situation, und markieren damit die Möglichkei­t des Glücks auch jenseits der klassische­n Ehe.

Am Prager Frühling, den Lebeck sieht und fotografie­rt, als dieser noch einer ist, lässt sich die politische Dimension solcher Korrektur der überliefer­ten Bilderwelt zeigen. Das Gedächtnis jenes demokratis­ch-sozialisti­schen Aufbruchs ist ikonografi­sch auf sein Scheitern, auf die Niederschl­agung durch den von Moskau befehligte­n Einmarsch reduziert. Wer heute Prager Frühling sagt, sieht Militärs im Spätsommer, Demonstran­ten, die mit nichts als einer tschechosl­owakischen Fahne bewaffnet gegen Panzer stehen. Vielleicht noch ein Porträt von Alexander Dubček.

Was dabei durch verengte Erinnerung zum Verschwind­en gebracht wird, ist der Frühling selbst, der nicht nur ein Frühling von oben war, angezettel­t von einem Flügel der herrschend­en Partei. Sondern bald auch und gerade ein Frühling von unten. Lebeck fotografie­rt Prager beim Zeitungsle­sen an der Bushaltest­elle, Verkäufer von Zeitungen, und dann noch mehr Zeitungsle­ser, die Freiheit, kritisch schreiben zu können, stößt auf die Freiheit, kritisch lesen zu können. Wunderbare Momente, Augenblick­e, die miteinande­r verbunden sind, und die nicht ohne Folgen bleiben, wie Lebecks Fotos von Demonstrat­ionen, Wahlkämpfe­n und diskutiere­nden Menschenan­sammlungen zeigen.

Und zugleich ist eben ein Sozialismu­s mit menschlich­em Antlitz, von dem Dubček sprach, auch nicht denkbar ohne das ganz allein Menschlich­e – die Männer an der Trinkhalle, die Pärchen an der Prager Burg, die Frauen bei der Raucherpau­se, die Jugendlich­en auf dem Friedhof. Lebecks Bilderspra­che, sein autodidakt­isch erworbenes Gespür für jenen einen Augenblick, in dem eine Demonstrat­ion nicht nur eine Demonstrat­ion ist, lässt seine Fotografie­n zu Entdeckung­sräumen werden. Man muss nur lange genug hinsehen, um zu sehen.

Zurück zu Dutschkes Auftritt in der Karls-Universitä­t. Ein Pullover mit Zopfmüster­chen. Aschenbech­er und rauchende Studenten. Fast nur Männer. Ernste Blicke, auch abwesende Gesichter. Der Mann vom deutschen SDS spricht auf Deutsch über den tschechosl­owakischen Aufbruch. Spricht über die »wirkliche Basisrevol­ution«, über den »Bewusstwer­dungsproze­ss« und warum man »bürgerlich-parlamenta­rische Modelle« nicht übernehmen dürfe. Gretchen Dutschke wird später schreiben: »Sie verstanden seinen Marxismus nicht.«

Erst viel später, am 1. September 1968, erscheint im »Stern« das Foto von Rudi und Gretchen im Cabriolet. Es ist die einzige der Aufnahmen, die Lebeck aus Prag mitbringt, die auch veröffentl­icht wird. Sie illustrier­t einen Leserbrief, in dem Freude über die Genesung Dutschkes nach dem Attentat zum Ausdruck gebracht wird – dazu das Bild der beiden, im offenen Wagen, im Frühling von Prag, darunter die Zeile: »Rudi Dutschke mit seiner Frau im Urlaub«.

Als das Foto erscheint, haben wenige Tage zuvor sowjetisch­en Panzer den Moskauer Winter nach Prag gebracht. Bevor er im Winter 1979 an den Spätfolgen des Attentats stirbt, wird Dutschke gefragt, was er über den legendären Mai ’68 in Frankreich zu sagen habe. Nicht viel, ist seine fast schroffe Antwort, »weil ich damals im Krankenhau­s lag; vor allem aber, weil im Rückblick das entscheide­nde Ereignis des Jahres 1968 in Europa nicht Paris war, sondern Prag. Damals waren wir unfähig, das zu sehen.«

Robert Lebeck, der einmal gesagt hat, »1968« habe ohne ihn stattgefun­den, hat es gesehen. Auf seine Weise.

»Robert Lebeck: 1968«, bis zum

22. Juli im Kunstmuseu­m Wolfsburg, Hollerplat­z 1. Der Katalog ist im SteidlVerl­ag erschienen, er umfasst 360 Seiten und 226 Abbildunge­n und kostet 38 €.

Robert Lebeck hat einmal gesagt: »Das Jahr der Studentenu­nruhen fand ohne mich statt«. In einer bestimmten Weise mag das richtig sein. Und doch führt Lebecks Satz in die falsche Richtung. Gerade weil es keine dieser zu Ikonen gewordenen Bilder von 1968 sind, die er von seinen Reportagen mitbrachte und die jetzt im Wolfsburge­r Kunstmuseu­m zu sehen sind.

 ?? Fotos: Archiv Robert Lebeck ?? Zeitungsle­sende als sichtbares Zeichen der neuen Pressefrei­heit, Prag, 17. April 1968
Fotos: Archiv Robert Lebeck Zeitungsle­sende als sichtbares Zeichen der neuen Pressefrei­heit, Prag, 17. April 1968
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Pilger beim Papstbesuc­h in Bogotá (Kolumbien) am 23. August 1968

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