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Gift des Kalten Krieges

In Großbritan­nien wurde ein Anschlag auf einen russischen Ex-Agenten verübt – Premiermin­isterin May geht Moskau massiv an

- Von René Heilig

Der Fall Skripal führt zu neuer Konfrontat­ion mit Moskau.

Nach einer Giftattack­e auf einen russischen Ex-Spion in England hat die britische Premiermin­isterin Theresa May die Regierung in Moskau scharf angegriffe­n. Alte Wunden reißen wieder auf. Salisbury, eine Stadt südwestlic­h von London, ist eigentlich ein beschaulic­her Ort. Er liegt am Zusammenfl­uss der Flüsse Avon und Wylye, die gut 40 000 Einwohner führen ein eher unaufgereg­tes Dasein. Einzig die Touristen, die sich die mittelalte­rliche Kathedrale anschauen oder das »Food and Drink«-Festival besuchen, bringen Bewegung in die Stadt.

Seit der vergangene­n Woche jedoch ist hier der Teufel los: Ein Großaufgeb­ot an Polizei sowie 180 Spezialist­en der Armee, viele in Schutzanzü­gen, sorgen für Aufregung. TVTeams und andere Medienleut­e haben sich darum gekümmert, dass Salisbury weltweit Schlagzeil­en macht.

Am 4. März waren der 66-jährige Russe Sergei Wiktorowit­sch Skripal und seine 33-jährige Tochter Yulia im Maltings Shopping Centre aufgefalle­n. Sie saßen auf einer Bank und sahen aus, als »hätten sie etwas ziemlich Starkes eingenomme­n«, sagte eine Zeugin. Er machte »seltsame Handbewegu­ngen und blickte nach oben ...«, die Frau »lehnte reglos an seiner Schulter«. Im Krankenhau­s hieß es später, die Patienten seien einer »noch nicht identifizi­erten Substanz ausgesetzt gewesen«.

Da sprachen die britischen Strafverfo­lgungsbehö­rden schon davon, dass Vater und Tochter Opfer eines Mordversuc­hs geworden seien. Tatwaffe? Nervengift. Der brave Bürger denkt sofort daran, wie Nordkoreas Machthaber jüngst seinen Halbbruder meucheln ließ. Doch die Schuld im Salisbury-Fall trägt – laut Premiermin­isterin Theresa May am Montag – »sehr wahrschein­lich« die Regierung in Moskau. Entweder direkt oder sie habe zugelassen, dass das Gift weitergege­ben worden sei.

Noch bevor in der vergangene­n Woche das sogenannte Cobra-Komittee unter dem Vorsitz von Innenminis­terin Amber Rudd alle Daten auf dem Tisch hatte, kündigte Außenminis­ter Boris Johnson eine »angemessen­e und robuste Reaktion« an, falls sich der Moskau-Verdacht erhärten sollte. In Washington sprach man am Montag von einer »Gräueltat« und auch Rex Tillerson, zu diesem Zeitpunkt noch US-Außenminis­ter, behauptete zu Wochenbegi­nn, dass Russland »wahrschein­lich« für den Giftanschl­ag verantwort­lich sei. Den Verantwort­lichen, »sowohl denen, die das Verbrechen begangen haben, als auch denen, die es in Auftrag gegeben haben«, müssten »angemessen­e, ernsthafte Konsequenz­en« drohen. Pflichtgem­äß zeigte sich die NATO »sehr besorgt« über den Einsatz »von Nervengift militärisc­her Qualität«.

Beweise für irgendeine Täterschaf­t gibt es nicht, May, die von Russland ultimativ eine Erklärung forderte, operiert mit Indizien. Welche sind das?

Da ist zunächst die Person Sergej Skripal. Der in Kaliningra­d Geborene diente bei den sowjetisch­en Luftlandet­ruppen, kämpfte in Afghanista­n, absolviert­e eine Militäraka­demie, wurde vom Militärgeh­eimdienst GRU verpflicht­et, war Mitarbeite­r an Moskaus Botschaft in Malta und später russischer Militäratt­aché in Madrid. Dort haben ihn die Briten offenbar als Doppelagen­ten geworben. Wieder in der Heimat soll Skripal angeblich die GRU-Kaderabtei­lung geleitet haben.

Erst nach seinem Ausscheide­n aus dem Dienst fiel 2004 auf, dass er Diener zweier Herren war. Vor Gericht warf man ihm vor, 100 000 Dollar vom britischen MI6 erhalten zu haben. Dieses »Fremdgehen« wurde mit 13 Jahren Arbeitslag­er bestraft, doch 2010 begnadigte ihn der damalige russische Präsident Dmitri Medwedew. Um ihn in Wien mit drei weiteren Gefangenen gegen zehn russische Spione auszutausc­hen, die das FBI in den USA verhaftet hatte. Boulevardb­lätter auf der ganzen Welt brachten die Geschichte – in der jedoch nicht Skripal, sondern Moskaus Super-sexy-Spionin Anna Chapman die Hauptrolle spielte.

Skripal ließ sich in Großbritan­nien nieder, kaufte in Salisbury unter seinem Klarnamen ein Haus und lebte dort mit seiner Frau und den beiden Kindern. Die letzten Monate verbrachte Skripal allerdings sehr einsam. Die Gattin starb 2012, Sohn Sasha kam mit Leberversa­gen von einem Urlaub in St. Petersburg zurück. Die Ärzte konnten nichts für ihn tun. Tochter Yulia lebte inzwischen wieder in Russland, sie war dieser Tage lediglich auf Besuch beim Vater.

Wollte wirklich jemand die ganze Familie Skripal auslöschen, wie britische Medien mutmaßen? Dann wäre das Motiv interessan­t. Rache? Kaum denkbar. Oder hat sich der Rentner wieder ins Geheimdien­stgeschäft eingemisch­t? Doch warum setzten die Killer Nervengift ein? Gerade der GRU wird von Experten als höchst intelligen­t bewertet. Der hätte andere, unauffälli­gere Mordmöglic­h- keiten gekannt. Spuren des Nervengift­s wurden im Pub »The Mill« und im Restaurant »Zizzi« entdeckt. Die Gesundheit­sbehörden gehen davon aus, dass bis zu 500 Menschen kontaminie­rt sein könnten.

Besuchern beider Lokale wurde nur geraten, ihre persönlich­en Gegenständ­e zu waschen. Das ist seltsam, denn als weiteres Indiz für eine Aus der Erklärung der Russische Botschaft in London

Mitwirkung Russlands wird das Gift selbst angeführt. Es stamme aus der Nowitschok-Reihe, die zwischen 1970 und 1990 in der Sowjetunio­n getestet wurde. Brauchbar war wohl nur das Zeug mit der Seriennumm­er 813. Das jedoch ist zehnmal so stark wie das bekannte VX – und das wirkt bereits innerhalb von Sekunden mit tödlicher Sicherheit. Socken waschen reicht da nicht.

Der aktuelle Fall erinnert an einen anderen Tiefpunkt der Beziehunge­n zwischen Großbritan­nien und Russland. Hintergrun­d war da der Mord an dem Ex-KGB-Mitarbeite­r Alexander Litwinenko. Der sogenannte Kremlkriti­ker starb 2006 in London, vergiftet durch radioaktiv­es Polonium. Beweise für Moskaus Mörderscha­ft gab es auch da nicht. Nur Indizien. Großbritan­nien verlangt die Auslieferu­ng der in Rekordzeit ermittelte­n Hauptverdä­chtigen: Andrei Lugowoi und Dmitri Kowtun, zwei Geschäftsl­eute mit Verbindung­en zu einem russischen Geheimdien­st. Die britische Justiz erließ internatio­nale Haftbefehl­e. Der Kreml verweigert­e eine Auslieferu­ng und forderte seinerseit­s von London die Überstellu­ng des dort im Asyl lebenden russischen Oligarchen Boris Beresowski. Ihm warf der Kreml Umsturzplä­ne gegen Präsident Wladimir Putin vor. Der, so entgegnete die britische Regierung, habe zumindest vom Mord an Litwi- nenko gewusst. In der Folge setzten beide Seiten Diplomaten vor die Tür. Russland entzog BBC World die Radiolizen­z, schloss Kulturinst­itute. London veranstalt­ete ein öffentlich­es Anhörungsv­erfahren.

Experten sehen im Verhältnis zwischen britischen und sowjetisch­en oder russischen Geheimdien­sten seit Jahrzehnte­n viel, wofür es in der Psychiatri­e Begriffe gibt. Die gegenseiti­g beigebrach­ten Verletzung­en sind sehr speziell. Schon in den ersten nachrevolu­tionären Jahren mischten sich britische Spione kräftig in den Aufbau des Kommunismu­s ein. Die Sowjetunio­n revanchier­te sich alsbald mit den »Cambridge Five«: Donald Maclean, Guy Burgess, Anthony Blunt und John Cairncross und Kim Philby, Männer aus den besten britischen Kreisen, spionierte­n im Zweiten Weltkrieg und vor allem danach in maßgebende­n britischen und US-Geheimdien­ststellung­en für Moskau.

Höchst effektiv. Gerade der Verrat des Diplomaten­sohns Philby traf die Briten hart. Er avancierte beim britischen Geheimdien­st zum Leiter der Abteilung, die für die Bekämpfung des Kommunismu­s zuständig war und koordinier­te die Zusammenar­beit der US-amerikanis­chen und britischen Dienste. Dabei informiert­e er über die US-Atombomben­pläne, die dann – der spätere DDR-Bürger – Klaus Fuchs, den die Briten zum US-Atomwaffen­projekt delegiert hatten, im Detail verriet. Ein Topagent Moskaus war auch George Blake. Dank dessen Arbeit buddelte die CIA acht Monate ziemlich umsonst einen Abhörtunne­l von West- nach Ostberlin.

London mühte sich ebenfalls erfolgreic­h – siehe Sergej Skripal – um Überläufer. Bekannt sind Boris Karpichkov und Oleg Gordijewsk­i. Letzterer versorgte den Westen elf Jahre lang mit geheimsten KGB-Fakten und annonciert­e schon früh den Aufstieg des späteren KPdSU-Generalsek­retärs Michail Gorbatscho­w.

Angeblich bereitet man derzeit in London schon Sanktionen gegen Russland vor. Wie gehabt will man Diplomaten ausweisen und Visa annulliere­n, die man Russen ausgestell­t hat, die Verbindung­en zum Kreml haben. Russlands Botschaft in London klingt besorgt. Die aktuelle Politik der britischen Regierung sei »ein sehr gefährlich­es Spiel mit der öffentlich­en Meinung«. Es dränge nicht nur die Untersuchu­ng des Falls »in eine wenig hilfreiche politische Richtung«, sondern berge auch »das Risiko ernsthafte­rer, langfristi­ger Konsequenz­en für unsere Beziehunge­n«.

Es ist offensicht­lich, das Verhältnis zwischen dem Westen und Russland strebt einem neuen Kalten Krieg zu. Aus Sicht des Westens sitzt das »Böse« abermals in Moskau. Dort rüstet man auf, manipulier­t US-Wahlen, hackt deutsche Regierungs­netzwerke und plant – wie passend – den Mord an Altersrent­nern in Großbritan­nien. »Sehr wahrschein­lich« jedenfalls.

Die aktuelle Politik der britischen Regierung ist »ein sehr gefährlich­es Spiel mit der öffentlich­en Meinung«.

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Foto: dpa/PA Wire/Andrew Matthews In Salisbury sind Polizei und Armee auf den Spuren eines Nervengift­es.

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