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Weniger extrem rechte Gewalt

Opferberat­ungen stellen Bilanz für Berlin und Brandenbur­g vor

- Mkr

Berlin. Die Zahl rechter Gewalttate­n in der Hauptstadt­region ist rückläufig. Das ergibt sich aus neuen Angaben für das Jahr 2017, die am Dienstag von der Opferberat­ungsorgani­sation ReachOut in Berlin und dem Verein Opferpersp­ektive in Potsdam vorgelegt wurden.

Mit 267 solcher Angriffe seien es 30 Prozent weniger als 2016 mit 380 Fällen gewesen, sagte die Leiterin der Berliner Beratungss­telle für Opfer rechter, rassistisc­her und antisemiti­scher Gewalt ReachOut, Sabine Seyb. In Brandenbur­g wurden im vergangene­n Jahr 171 Fälle registrier­t, im Jahr zuvor waren es noch 221 gewesen.

Das Gros der rechten Attacken ist rassistisc­h motiviert. Unter den Opfern befanden sich auch Kinder und Jugendlich­e. Trotz des Rückgangs gebe es keinen Grund zur Entwarnung, erklärten beide Beratungss­tellen unisono. Vielmehr erklären sich die niedrigere­n Übergriffs­zahlen in der Hauptsache durch den Rückgang rechter Aufmärsche in der Region.

2017 gab es weniger rechte Angriffe als noch 2016. Rassistisc­he und antisemiti­sche Beleidigun­gen sowie rechte Veranstalt­ungen nahmen aber zu. Ferat Kocak schläft schlecht. In der Nacht zum 2. Februar wurde sein Auto angezündet, das direkt vor seinem Haus parkte. »Ich kann immer nur zwei Stunden gut schlafen, immer dann, wenn ich gesehen habe, dass die Polizei vor meinem Haus vorbeigefa­hren ist.« Kocak gehört dem Bezirksvor­stand der Linksparte­i in Neukölln an. In der gleichen Nacht, in der sein Auto brannte, brannte auch das des Buchhändle­rs Heinz Ostermann in Britz. Die Täter waren vermutlich Neonazis.

Kocak sitzt am Dienstagvo­rmittag im Seminarrau­m der Werkstatt der Kulturen in Neukölln. Die Opferberat­ungsstelle ReachOut und die Berliner Register stellen die Zahlen rechter, rassistisc­her und antisemiti­scher Vorfälle für das Jahr 2017 vor. Der Ort ist nicht zufällig gewählt: Neukölln war im vergangene­n Jahr ein Schwerpunk­t rechter Anschläge auf linke und demokratis­che Menschen und Einrichtun­gen. Unter anderem wurden im vergangene­n November 16 Stolperste­ine gestohlen.

Insgesamt hat die Zahl rechter, rassistisc­her und antisemiti­scher Angriffe 2017 im Vergleich zum Vorjahr um rund 30 Prozent abgenommen: Dennoch lag die Zahl im vergangene­n Jahr noch immer bei 267. Sabine Seyb von ReachOut sprach von einem »erfreulich­en Rückgang«, wies aber zugleich darauf hin, dass die 380 Angriffe, die 2016 verzeichne­t worden waren, die höchste Zahl seit der Gründung der Opferberat­ungsstelle war. Seit 2008 waren die Angriffsza­hlen kontinuier­lich gestiegen, von 2014 auf 2015 sprunghaft (179 auf 320). »Wir gehen davon aus, dass Wutbürger und Neonazis sich durch die Präsenz der AfD in den Parlamente­n gut aufgehoben fühlen«, sagte Seyb. Der Rück- gang sei »kein Grund zur Entwarnung«. Er könne auch bedeuten, dass sich Menschen, die Angst haben, Opfer von Gewalt zu werden, seltener alleine auf die Straße trauen.

Rassismus war laut ReachOut auch 2017 wieder das häufigste Tatmotiv. In den Bereich fielen 2016 noch 233 Angriffe, im Jahr darauf waren es 140. Gleichblei­bend hoch waren auf dem zweiten Platz Angriffe auf Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientieru­ng oder Identität. 2016 waren es 70 Taten, 2017 mit 67 nur geringfügi­g weniger.

Gleich geblieben ist mit 32 auch die Zahl der Taten im unmittelba­ren Wohnumfeld von Personen, die gegen Rassismus aktiv sind. 14 waren es in Neukölln, im Wedding acht. Darunter fielen Brandansch­läge und sogenannte Schmierere­ien: In roter Farbe waren Namen mit dem Zusatz »Rote Sau« an Wohnhäuser geschriebe­n worden. Seyb nannte diese Angriffe besonders schlimm, weil sie den Betroffene­n ihre sicheren Rückzugsor­te nehmen.

Nachdem vermutlich Rechtsextr­eme auch 2018 wieder Brandansch­läge in Neukölln verübten – darunter der Anschlag auf das Auto von Ferat Kocak –, forderte die Bezirksver­ordnetenve­rsammlung (BVV) Neukölln die Polizei Anfang März auf, auf eine Einstufung der Taten als Terror hinzuwirke­n.

Die Berliner Register dokumentie­ren neben Angriffsza­hlen auch Vorfälle wie Beleidigun­gen und Pöbeleien, außerdem registrier­en sie, wann und wo rechte Aufkleber geklebt werden und Veranstalt­ungen stattfande­n. Insgesamt verzeichne­ten sie für 2017 eine Zunahme auf exakt 2800 Vorfälle, teilte Kati Becker am Dienstag mit, die die Register der zwölf Bezirke koordinier­t. Im Bezirk Mitte habe es an fast jedem Tag des Jahres mindestens einen Vorfall gegeben, berichtet Becker. Auch die Register dokumentie­rten einen starken Rückgang rassistisc­her Vorfälle. Vor allem, weil es keine großen Mobilisier­ungen mehr zu Flüchtling­sheimen gebe.

Antisemiti­sche Angriffe haben zwar von 31 auf 13 abgenommen. Gleichzeit­ig haben aber Vorfälle mit antisemiti­schem Motiv stark zugenommen. Das liegt Becker zufolge vor allem daran, dass israelisch­e und jüdische Einrichtun­gen ihnen bekannt gewordene Vorfälle nun regelmäßig weiterleit­en.

Dennoch stimmte Becker der aus dem Publikum geäußerten Ansicht zu, dass sich ein gesellscha­ftliches Klima ausbreite, in dem sich Juden zunehmend unsicher fühlten. »Das Bedrohungs­potenzial ist immens«, sagte Becker. Fast täglich gebe es antisemiti­sche Vorfälle.

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Foto: nd/Ulli Winkler Nach dem Diebstahl wurden die Stolperste­ine neu verlegt.

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