nd.DerTag

Meisterin der Nahdistanz

Åsne Seierstad erhält zur Eröffnung der Messe im Gewandhaus den Leipziger Buchpreis zur Europäisch­en Verständig­ung – eine gute Entscheidu­ng

- Von Velten Schäfer

Wie wurde Anders Behring Breivik das, was er ist? Seine preisgekrö­nte Lebensgesc­hichte zeigt das ohne falsche Psychologi­sierung. Mit 15 hieß er »Morg«. Das war sein »Tag«, sein Signet. Er zog mit Kumpels nachts umher und sprühte sich auf Oslos Wände. Er stand auf »schweren, rollenden« Hip-Hop und bewunderte die Coolness der schwarzen Viertel New Yorks. Er erfüllte die Codes dieser Szene, die eher links als rechts waren, er gehörte eben dazu. In Auseinande­rsetzungen zwischen einheimisc­hen und eingewande­rten Jugendlich­en hielt er als Weißer zu den »Brownies«. Die fand er cooler.

Als ihn einmal ein strenger Lehrer beim Sprayen ertappte und vor Zeugen schlug, boxte er zurück. Der Lehrer ging zu Boden, Morg hingegen wurde bewundert und hatte einen Namen. Dann aber wurde er wieder erwischt. Und nun verstieß ihn die Tagger-Gemeinscha­ft: Morg habe gepetzt, hieß es, auf der Straße war er jetzt eine Unperson. Zugleich aber auch zu Hause, denn er hatte sein Verspreche­n gebrochen, nie wieder eine Dose in die Hand zu nehmen. Der Vater wandte sich ab von seinem Sohn.

In der Folge wurde Morg zu Anders, »Anders Behring«, das klang besser als das bäuerliche »Breivik«. Anders erzählte herum, er sei vielleicht mit Vitus Bering verwandt, dem dänischen Entdecker der gleichnami­gen Seepassage. Er wechselte die Schule, den Stil und das Lager. Bei der Jugend der »Fortschrit­tspartei« bekam er gleich eine Funktion.

Zuerst war Anders nur neoliberal: »Get rich or die trying« schrieb er in ein Parteiforu­m, »werde reich oder stirb beim Versuch«. Vielleicht ein letzter Bezug zum Hip-Hop: So hieß das Debütalbum des Rappers 50 Cent. Nach diesem Credo hasste er die Arbeiterpa­rtei: Man könne nicht reich werden, wenn sie regiert. Jetzt wurde Anders auch sehr eitel. Er sorgte sich um seinen Glatzenans­atz, doch eine Haartransp­lantation fürchtete er, es könnte Narben geben. Er zog sich die Augen nach, schminkte und puderte sich, metrosexue­ll nannte man das damals.

Wie dieser junge Mann gar nicht sehr viel später dazu kam, sich zu einem wahllosen Massenmord an 77 jungen Norwegerin­nen und Norwegern »berechtigt« zu sehen, weil diese für das Ende eines weißen Europas stünden, erzählt die norwegisch­e Starjourna­listin Åsne Seierstad in ihrem Bestseller »Einer von uns«. Für dieses Buch, auf deutsch 2016 erschienen, erhält sie nun den Leipziger Buchpreis zur Europäisch­en Verständig­ung, mittels dessen die Leipziger Buchmesse jährlich ihre poli- tisch-moralische Haltung indiziert. Und obwohl dieser Preis eigentlich primär der Verständig­ung mit Mittelund Osteuropa dienen soll, ist das eine gute Entscheidu­ng. In ihrem Buch über Breivik wie in ihrem neusten, 2017 erschienen­en Titel über »Zwei Schwestern«, die sich aus dem behüteten Norwegen in den syrischen Dschihad aufmachten, zeigt Seierstad eine publizisti­sche Tugend, die im Angesicht des Terrors ins Hintertref­fen zu geraten droht: Verständni­s – was so wenig mit Billigung zu tun hat wie Vergleich mit Gleichsetz­ung.

Seierstad hat nicht nur intensiv recherchie­rt in den diversen Umfeldern, die Breivik in seiner Mörder-Werdung durchlaufe­n hat, sondern sich auch in ihn »hineinvers­etzt«. Das ist natürlich ein Grenzgang. Doch der TatsachenR­oman, der das Ergebnis dieser Haltung ist, vermeidet eine platte Psychologi­sierung. Es wir etwa keine gerade Linie gezogen zwischen der Aufmerksam­keitssucht eines taggenden Jugendlich­en und dem Ego-Rausch, den eine so monströse Tat fraglos erfordert. Es gibt nicht den einen vermeintli­chen Schlüsselm­oment, nach dem das Massaker als unausweich­lich erscheint. Gerade das macht die Lektüre so realistisc­h bestürzend.

So ist »Einer von uns« jenseits seines journalist­ischen Inhalts auch ein Ausweis literarisc­hen Könnens. Die 1970 in Oslo geborene Autorin – lange im »harten« Nachrichte­nfach als Kriegs- und Krisenrepo­rterin aktiv – hat dieses »weiche« Genre der faktenbasi­erten Erzählung aus der Nahdistanz zu einer gewissen Meistersch­aft gebracht. Dass sie dabei Lehrgeld zahlen musste – ihr erstes derartiges Buch namens »der Buchhändle­r von Kabul« zog lange Prozesse nach sich, weil Seierstad den weiblichen Hauptperso­nen zu nahe getreten war – schmälert den Verdienst des Breivik-Buches nicht. Und ja: Natürlich hätte sich das Buch nicht so gut verkauft, wenn es nicht auch voyeuristi­sche Leseintere­ssen bediente. Ein Selbst- oder der Hauptzweck des Buches sind diese aber nicht.

Åsne Seierstad: Einer von uns. Die Geschichte des Massenmörd­ers Anders Breivik. Kein & Aber 2016, 544 S., geb., 26 €.

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Foto: dpa/Sigrid Harms Åsne Seierstad

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