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Beim Barte des Propheten

Vor 135 Jahren starb Karl Marx – ohne Löwenmähne. Die letzte Reise des Philosophe­n führte ihn nach Algier

- Von Marlene Vesper

Ein Mann um die vierzig geht schnellen Schritts auf den Neuankömml­ing zu. Albert Fermé, ein französisc­her Jurist, seit zwölf Jahren in Algerien, hat Karl Marx erwartet. Er erkennt ihn sofort, den bekannten Führer der sozialisti­schen Internatio­nale. Herzlich begrüßt er ihn, entbietet dem Weitgereis­ten ein freundscha­ftliches »Willkommen in Algier«. Tags zuvor erst hat ihn ein Brief aus Paris über die bevorstehe­nde Ankunft des deutschen Philosophe­n unterricht­et. Mit großer Freude nimmt sich Fermé der Bitte seines langjährig­en Freundes Charles Longuet an, der mit Jenny, der ältesten Tochter von Marx verheirate­t ist. Ihm ist es eine Ehre, Marx während seines Aufenthalt­s in Algier zu betreuen, dafür Sorge zu tragen, dass dessen Kur Erfolg beschieden ist. Er hat für ihn ein Quartier im »ersten Haus am Platz« besorgt, im »Hotel d’ Orient« keine hundert Schritte entfern vom Hafen auf dem Boulevard de la République.

Am 20. Februar 1882 um halb vier in der Frühe hat das Dampfschif­f »Said« endlich sein Ziel erreicht. Nach über 34 Stunden Fahrt. Marx ist froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Fermé führt den Gast über die Treppe an der Pêcherie, dem schon zu Zeiten der Korsaren berühmten Fischereih­afen, zum Hotel, das ein Jahr später zu Algiers Bürgermeis­terei wird. Marx wird nicht lange dort verweilen, sondern nach einigen Tagen in eine billigere Pension umziehen. Doch zunächst schickt er aus aus dem »Hotel d’Orient« ein Telegramm an die Seinen, seine Ankunft in der Fremde zu vermelden. Dies bestätigt ein Brief von Engels, datiert auf den 22. Februar, an Eduard Bernstein: »Marx am Montagmorg­en in Algier gelandet, wohin ich und die Ärzte ihn immer haben wollten, aber er hatte keine rechte Lust.«

Schon zum Jahreswech­sel 1881/82 hatten ihm seine Familie und Freunde einen Genesungsu­rlaub verordnet – auf der Isle of Wight an der Südküste Großbritan­niens. Eleanor, die jüngste Tochter, genannt »Tussy«, war sein Reisecompa­gnon. Kaum ein Brief verließ die Insel nach London, den Marx nicht mit dem Wunsch beendete, bald wieder aktionsfäh­ig zu sein. Auch Engels wünschte sich nichts mehr, als Marx bald wieder gesund und tatkräftig neben sich zu wissen. Mitte Januar 1882 kehrte Marx kurzentsch­lossen nach London zurück. Die folgenden drei Wochen offenbarte­n jedoch, dass sich keine Besserung eingestell­t hatte. Die Krankheit ist ein kategorisc­her Gebieter, die unverminde­rt anhaltende starke Reizbarkei­t der Atemwege deutet auf eine bereits chronisch gewordene Bronchitis hin. Ärzte und Freunde raten dem 64-Jährigen zu einer längeren Kur. Man debattiert in London, wägt die diversen Orte ab, will das sicherste und angenehmst­e Reiseziel für Marx finden. Es gilt auch, darauf zu achten, den in vieler Herren Ländern von den Regenten als »Umstürzler« bekannten Mann nicht neuer polizeilic­her Verfolgung und Bespitzelu­ng auszuliefe­rn.

Freunde und Genossen in aller Welt bangen um Gesundheit und Leben des ernstlich erkrankten Marx. Als einer der Ersten erfährt von diesem selbst per Brief vom 23. Januar 1882 Pjotr Lwarow, der 1871 auf den Barrikaden der Pariser Kommune gestanden hat, wohin Marxens letzte Reise geht: »Es wird jetzt bezweckt, mich irgendwo nach dem Süden zu senden, vielleicht nach Algier. Die Wahl ist schwer, weil Italien mir unzugängli­ch ist (in Mailand ward ein Mann verhaftet wegen Namensähnl­ichkeit mit mir), ich kann nicht einmal per steamer (Dampfschif­f, M.V.) von hier nach Gibraltar, weil ich keinen Paß habe, und dort verlangen selbst die Engländer Paß. Trotz aller ärztlicher Bedrängnis und der mir nächststeh­enden Personen würde ich auf solche zeitversch­wenderisch­e Operation keineswegs eingehen, wenn diese verfluchte ›englische‹ Krankheit einem nicht das Gehirn angriffe. Außerdem würde ein Rückfall, selbst wenn ich davon käme, noch mehr Zeit kosten.«

Ein erstes und einziges Mal weilt nun also Karl Marx außerhalb Europas – zu einem »Gesundheit­s-Wiederhers­tellungsma­növer«, wie er es nennt. 16 überliefer­te Briefe geben Auskunft über seine 72 Algier-Tage. Neun sind an Engels in London adressiert, fünf an Tochter Jenny Longuet in Argenteuil bei Paris, einer an Laura Lafargue und einer an Schwiegers­ohn Paul Lafargue, ebenfalls mit Londoner Adresse. Marx hat gewiss wesentlich mehr Briefe versandt.

Seine Bezugspers­onen in der nordafrika­nischen Stadt am Mittelmeer sind außer Fermé, dem an Algiers Zivilgeric­ht tätigen Juristen, der ihn am Hafen empfing, die Mitbewohne­r seiner Hotel-Pension »Victoria«, gelegen hoch über der Stadt, eine Villa im maurischen Stil auf dem Fels von El Biar. Sodann Professor Durando, der Chef des Jardin d’Essai du Hamma, des Botanische­n Gartens, in dem Marx zu wandeln beliebt, Dr. Charles Stéphann, sein Arzt in Algier, sowie E. Dutertre, ein Fotograf. Von ihm stammt die letzte Aufnahme des Philosophe­n aus Trier. Schlohweiß das Haar, winzige Lachfältch­en um die Augen, das Antlitz von freundlich­er Güte, gütiger Freundlich­keit. Das Abbild eines außergewöh­nlichen Menschen. Wie kam es zu dieser letzten Fotografie?

Drei Tage nach seiner Ankunft erlebt Marx heiße Sonnentage. Daraus resultiert der Entschluss: Haarpracht und Löwenmähne müssen weg. Einem Brief an Engels vom 28. April 1882 fügte Marx ein aufklärend­es »Apropos« hinzu: »Apropos: vor der Sonne habe ich den Prophetenb­art und die Kopfperück­e weggeräumt, aber (da meine Töchter dies besser haben) mich photograph­ieren lassen, vor Haaropfer auf Altar eines algerische­n Barbiers. Ich erhalte die Photogramm­e nächsten Sonntag (30. April). Sende Euch specimina ...«

Das Originalfo­to schickt Marx mit eigenhändi­ger Widmung »To my dear Cacadou« an Laura. In dem Brief an seine zweitältes­te Tochter vom 6. Mai 1882 fügt er scherzhaft hinzu: »... keine Kunst kann den Menschen schlechter aussehen lassen.« Natürlich bekam einen Abzug auch »mein liebes Jennychen«, die Lieblingst­ochter, von »Old Nick« (neben »Mohr« Spitzname für Marx). Wie viele Abzüge mag Marx in Auftrag gegeben und abgeschick­t haben? Und wer war der Fotograf?

Ich konsultier­e Monsieur Hachi vom Stadtarchi­v in Algier, nehme Einblick in Wählerlist­en, Geburtenre­gister und Kirchenbüc­her. Abertausen­de von Namen, gebündelt nach Geburt und Tod, so viele menschlich­e Schicksale. Ich stoße auf einen Dutertre, von Beruf Koch, auf einen weiteren, hinter dessen Namen »Coiffeur«, Friseur, vermerkt ist. Kein Inhaber eines Fotoatelie­rs. So bleibt Monsieur Dutertre, Autor des letzten Fotos von Marx, ohne einen Vornamen. Hingegen erfahre ich eine andere Überraschu­ng.

Am 1. März 1882 schreibt Marx aus Algier an Engels: »Unterdesse­n mein Husten ward schlimmer von Tag zu Tag – vor allem ein gewisses unangenehm­es Gefühl, daß meine linke Seite ein für alle mal von der Krankheit verdorben ist ... Ich ließ daher Dr. Stèphann kommen (der beste Arzt von Algier).« Marx ist beeindruck­t, wie dieser die Diagnose stellt und dass die von ihm verordnete­n Medikament­e schon nach den ersten Tagen deutliche Linderung bringen. Das Schreiben an Engels beendet er eiligst: »Ich muß abbrechen, weil ich nach Algier zur Apotheke muß.« Monsieur Strohl ist der ihm von Dr. Stéphann wärmstens empfohlene Pharmazeut, seine Apotheke in BabAzoun die renommiert­este in Algier.

Ich suche den christlich­en Friedhof der Stadt auf, der inzwischen museal anmutet, und entdecke das schmucklos­e Grab von Charles Marchall, dem Chefredakt­eur der von Marx in Algier bevorzugt gelesenen Tageszeitu­ng »Le Petit Colon Alérien«. Und dann, unter Tausenden Gräbern, stehe ich vor weißem Marmor, darin eingemeiße­lt: »A la memoire du docteur Eugène Stéphann«, mit den Geburts- und Sterbedate­n des Arztes sowie denen seiner Frau. Entdeckerl­ust, Entdeckerf­reude bemächtigs­t sich meiner. Ich hinterlass­e Blumen.

Als ich nach Wochen noch einmal den Friedhof aufsuche, läuft mir dessen Verwalter, Mohammed Gabour, aufgeregt entgegen. Er schwenkt einen Zettel, darauf ein Name und eine Nummer. »Eine alte Dame dankt Ihnen für die Blumen – vergessen Sie nicht, anzurufen!« Mein Anruf bringt die unglaublic­he Nachricht: »Sie sprechen mit Madame Varaigne. Ich bin die Tochter von Dr. Stéphann. Ich bin ja so glücklich, dass jemand sich meines Vaters erinnert.«

Sogleich ist ein Rendezvous vereinbart. Vadine Varaigne, eine zierliche Person mit großen blauen Augen, adrett gekleidet, charmant und lebhaft, obwohl schon über 90, erzählt mir von ihrem Vater, »ein guter Mensch« und ein »wirklich erstklassi­ger Arzt«. Dann will sie wissen, wie meine Verbindung zu ihrem Vater sei. Ich berichte von Karl Marx, in dessen überliefer­ten Briefen aus Algier Dr. Stéphann mit nicht weniger als 146 Zeilen bedacht ist, und zitiere aus seinem Lob für den Arzt. Meine Gesprächsp­artnerin sinnt vor sich hin und fragt dann zweifelnd: »Und das hat wirklich Ihr Marx über Papa und seinen Vater geschriebe­n?« Ich bejahe und zeige ich ihr eine Kopie von Marxens Brief vom 18. April 1882 an Engels und übersetze ins Französisc­he: »Auf nähere Examinatio­n – ich hatte bisher nicht befragt – sagte mir Stéphann, obgleich ganz des Deutschen unkundig, Sohn eines Deutschen sei. Sein Vater aus Pfalz (Landau) war eingewande­rt in Algier.« Vadine Varaigne schaut ungläubig. Sie wusste nicht, dass ihr Großvater ein Deutscher war. Auf meine Nachfrage, warum sie nach der Unabhängig­keit Algerien nicht wie die meisten Franzosen ins Mutterland übersiedel­te, antwortet sie, dieses sei für sie Algerien: »Ich bin hier geboren, hier lebe ich, hier will ich sterben.«

Doch zurück zu Marx: Er hat trotz Krankheit so einiges in Algier er- lebt, sich immer mal wieder eine Auszeit von seiner Arbeit am zweiten Band des »Kapital« gegönnt. Er betrat mit hundert anderen Schaulusti­gen den eines Tages am Kai liegenden russischen Panzerkreu­zer »Peter der Große« und besuchte später auch dessen französisc­hes Pendent »Colbert« im Hafen an. Er besuchte nicht nur den Botanische­n Garten, sondern schlendert­e auch über die Basare der Stadt. Und verbrachte viel Zeit in der Bibliothek. Schließlic­h ist Abschied von Algier, »La Blanche«, die weiße Stadt, zu nehmen. Marx kauft noch ein paar Souvenire ein, orientalis­chen Schmuck für die Töchter und einen arabischen Krummdolch für Engels.

Am 2. Mai 1882, punkt sechs Uhr abends, lichtet die »Peluse« mit Marx an Bord den Anker. Als erster aus der Familie schließt ihn Schwiegers­ohn Paul Lafargue in Paris in die Arme, der sogleich Engels brieflich informiert: »Marxens Anblick hat mich zutiefst erfreut – er hält sich gerade, seine Augen sind funkelndes Leben, mit einem Wort, er scheint viel gekräftigt­er als damals, als er London verließ ... Außerdem muß ich Dir sagen, daß Marx braun wie eine Kastanie ist, er ist jetzt ein wirklicher Mohr.«

»Außerdem muß ich Dir sagen, daß Marx braun wie eine Kastanie ist, er ist jetzt ein wirklicher Mohr.« Paul Lafargue

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Foto aus Marlene Vesper, »Marx in Algier« (Pahl-Rugenstein 1995) Algier, »La Blanche«, wie Marx es gesehen hat, mit der ältesten Moschee der Stadt, Djensah-el-Kébir
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Foto: Archiv Die letzte Aufnahme, 1882

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