Protektionismus der Überlegenen
Arbeitsrechtler Marek Benio: Neue Entsenderichtlinie schadet osteuropäischen Firmen
Vor einer Woche haben sich die Verhandlungsführer in Brüssel und Straßburg bei der Reform der EUEntsenderichtlinie vorläufig geeinigt. Für entsandte Arbeitnehmer sollen die gleichen Lohnbedingungen gelten wie für einheimische Beschäftigte. Können sich die Polen freuen, dass sie künftig genauso viel verdienen wie ihre deutschen und französischen Kollegen?
Polen führt die Liste jener EU-Mitgliedsstaaten an, die ihre Arbeitnehmer ins Ausland entsenden. Jährlich sind es nahezu 460 000, das entspricht beinahe 23 Prozent aller entsandten Personen in der EU. Deshalb sollte meinen Landsleuten eigentlich sehr daran gelegen sein, dass sich die Wortführer in Brüssel auf eine für Polen gerechte Entsenderichtlinie einigen. Aber das ist zu bezweifeln.
Warum?
EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker führte wiederholt das Argument an, dass jeder Arbeitnehmer, der dieselbe Arbeit an demselben Ort ausführt, auch denselben Lohn erhalten soll. Das ist plausibel und klingt erst einmal gerecht. Näher betrachtet ist sein Postulat aber alles andere als das. Für uns Arbeitsmarktforscher ist es sogar eher unsozial, denn unter dem Deckmantel der europaweiten »Gleichbehandlung« von Arbeitnehmern werden in Wahrheit protektionistische Maßnahmen eingeführt und zwar von Ländern, die Polen ohnehin wirtschaftlich überlegen sind. Es ist also vielmehr ein Wettstreit darüber, für wen entsendete Polen künftig arbeiten werden: für ihr eigenes Land oder zum Beispiel für Frankreich. Dessen Präsident Emmanuel Macron wirft osteuropäischen Arbeitgebern Lohndumping vor, dabei möchte er selbst Mechanismen einführen, die es in der EU wirtschaftlich stärkeren Ländern ermöglichen, qualifizierte Arbeitskräfte aus dem osteuropäischen Ausland zu vereinnahmen.
Wie sieht dieser Protektionismus denn genau aus?
Ich zähle selbstverständlich zu den Befürwortern einer EU-weiten Gleichbehandlung in der Lohnfrage und möchte, dass ein polnischer Maurer genauso viel verdient wie ein deutscher, dabei aber in Polen bleibt und hier arbeitet. Die vorläufige EUEntsenderichtlinie strebt indessen eine Chancengleichheit an, die allein geografisch bedingt ist. Polnische oder bulgarische Fachkräfte profitieren von dieser Maßnahme nur dann, wenn sie langfristig in Deutschland, Belgien oder Frankreich arbeiten. Der polnischen Wirtschaft bringt diese Regelung jedoch mehr Schaden als Nutzen.
Das in Westeuropa erwirtschaftete Kapital findet doch häufig auch wieder den Weg zurück nach Polen?
Bei der aktuell festgelegten Entsenderichtlinie wird dies langfristig nicht möglich sein, im Gegenteil: Sie bewirkt, dass die sozialen Unterschiede innerhalb der EU weiter anwachsen. Wir in Polen verlören allmählich eine der wichtigsten Säulen unserer Wirtschaft – die menschliche Arbeitskraft. Diese ist unsere Stärke, unser Kapital. Mit unseren finanziellen Mitteln und Exportgütern können wir es mit Frankreich und Deutschland noch nicht aufnehmen. Konkurrenzfähig (und zuweilen überlegen) sind hingegen unsere qualifizierten Fachkräfte und ihre hohe Arbeitsmoral. Sie werden jedoch die besseren Tariflöhne in Westeuropa vorziehen, daher wird die ohnehin schon hohe Arbeitsmigration zunehmen. Obendrein möchte die EU-Kommission nun, dass die Entsendungen künftig auf zwölf Monate begrenzt werden. Nach dieser Zeit unterliegt der polnische Arbeitnehmer dem Rechtsund Steuersystem des Landes, in dem er arbeitet. Er wird also vor die Wahl gestellt, ob er weiterhin in Lyon arbeitet und anfängt, dort Steuern zu entrichten, oder ob er nach Polen zurückkehrt und wieder drei Euro pro Stunde verdient. Wir müssen nicht lange darüber nachdenken, wie er sich entscheidet. Er bleibt in Westeuropa, auch wenn die Lohnkosten vorher niedriger waren, weil er in Polen kranken- und sozialversichert war. Am Ende verliert Polen also beides: qualifizierte Arbeitskräfte und Einnahmen, die in die Sozialversicherung bzw. den Staatshaushalt fließen.
Wird die Entsenderegelung nicht auch deswegen in Polen kritisiert, weil polnische Unternehmer befürchten, künftig auch andere Lohnbestandteile der EU-Norm angleichen zu müssen, wie Zulagen und Prämien?
Die meisten polnischen Unternehmen können sich die in den Rechtsvorschriften und Tarifverträgen festgelegten EU-Normen leisten. Das Problem besteht darin, dass anschließend weitere Ausgaben auf sie zukommen, beispielsweise für Rechtsanwälte. Tarifverträge sind oft stark regionsabhängig. Wenn der entsandte Arbeitnehmer seinen Einsatzort wenige Kilometer verschiebt, kann er bereits ganz anderen Branchenkriterien unterliegen. Die lokale Arbeitsaufsicht kann dann ohne weiteres der polnischen Firma nachweisen, dass diese eine »verbindliche Zulage« ausgelassen habe. Für den Arbeitgeber in Polen geht die Entsenderichtlinie also mit einer ständigen juristischen Unsicherheit einher. Große ausländische Firmen können sich teure Rechtsanwälte leisten, aber in Polen sind es vor allem mittelgroße Baubetriebe, die Arbeitnehmer entsenden. Wie gesagt, sie können sich diese Zulagen und Prämien leisten, aber unter rechtlich klaren Bedingungen.
Macron untermauert seine Reformwünsche auch mit der Behauptung, entsandte Arbeitnehmer würden von deren heimischen Firmen ausgebeutet und lebten am Einsatzort unter fürchterlichen Bedingungen. Natürlich kann so etwas vorkommen, aber das hat nichts mit der EU-Entsenderichtlinie zu tun. Unter solchen Bedingungen leben im Ausland Schwarzarbeiter, die fälschlicherweise in die Statistiken mit aufgenommen werden. Über solche Fälle lassen sich hervorragende Reportagen schreiben, jedoch nicht in Zusammenhang mit polnischen Unternehmen, die ihre Arbeiter legal ins Ausland entsenden. Fakt ist, dass Frankreich mit dem Problem der Schwarzarbeit überfordert ist. Die von Macron forcierte Entsenderegelung zielt allerdings nicht auf die illegalen Arbeiter in Frankreich.
Wie kann man einen Kompromiss finden, der alle zufriedenstellt? Bevor über die neue EU-Entsenderichtlinie abgestimmt wird, muss sie noch einmal überarbeitet werden. Es sollten längere Übergangszeiten für wirtschaftlich schwächere EU-Mitgliedsstaaten festgelegt, der Entsendungszeitraum darf nicht derart verkürzt werden, dass es sich für den polnischen Arbeitnehmer anfühlt, als hätte er die Pistole am Kopf. Um es ganz diplomatisch auf den Punkt zu bringen: Die Reformwilligen in Westeuropa sollten die Änderungen so durchführen, dass sie ihre politischen Ziele erreichen, ohne dass die polnischen oder bulgarischen Unternehmen den Schaden davontragen.