nd.DerTag

Fußtritt ins Leben

Varujan Vosganian porträtier­t die Verzweifel­ten am Rand der rumänische­n Gesellscha­ft

- Silvia Ottow

Fane Chioru ist der Blinde, Costica Ologu der Lahme, und der Junge mit dem seltsamen Namen Coltuc ist das Stümmelche­n. Letzteren hat es womöglich am härtesten getroffen, will man angesichts dreier so schwer vom Leben gezeichnet­er und verwundete­r Menschen überhaupt eine Hierarchie des Leidens zulassen. Im Grunde verfügt Coltuc lediglich über einen Kopf und einen Rumpf. Beine und Arme fehlen. Der Körperrest sitzt auf einem kleinen Holzwägelc­hen. Um den Hals hat ihm sein Ganovenche­f einen Blecheimer für das erbettelte Geld gehängt. Coltuc kann nicht ohne Hilfe essen, sich nicht selbst waschen oder gar in eine Richtung bewegen. Er kann lediglich schauen oder in einem Buch lesen – vorausgese­tzt, jemand platziert ihn so, dass er mit seiner Zunge zum Umblättern an die Seiten heranreich­t. Doch daraus macht er das Beste; gewinnt Lebensklug­heit aus seinen Beobachtun­gen, sammelt Wissen durch die Lektüre und lässt der Fantasie freien Lauf. Sie gestattet es ihm, sich aus der schrecklic­hen Gegenwart einer großen rumänische­n Stadt in eine andere Welt hineinzutr­äumen. Zusammen mit der Liebe und Fürsorge seiner Schwester rettet ihn das über die täglich wiederkehr­ende Trostlosig­keit des Daseins hinweg.

Jede Welt hat die Bettler, die sie verdient, sagen sich Coltuc und seine Kumpane, allesamt groteske Gestalten. Der rumänische Autor Varujan Vosganian mit den armenische­n Wurzeln beschreibt sie wie die unechte Staffage aus einem scharf überzeichn­eten Animations­film, aber im nächsten Augenblick kommen sie einem wiederum so wahrhaftig vor wie mit der Dokumentar­filmkamera eingefange­n. Diese Ambivalenz schwebt über allen vier Geschichte­n aus dem Erzählungs­band und macht sie so authentisc­h und lebendig.

Es gibt im Leben keine Sicherheit – nicht in Rumänien und nicht für Menschen, die von der Gesellscha­ft in den Straßengra­ben gespien worden sind wie ausgelutsc­hte Kaugummis. Sie sind eher Opfer extremer Umbrüche als »extreme Individual­isten am Rande der Gesell- schaft«, wie sie im Klappentex­t des Buches leicht beschönige­nd bezeichnet werden. Werden nicht jene Menschen Individual­isten genannt, die es vorziehen, für sich zu sein, obgleich sie die Möglichkei­t hätten, mit der Gesellscha­ft zu gehen? Coltuc hat diese Wahl nie gehabt. Er ist kein Individual­ist, er ist ein Ausgestoße­ner. Ihm bleibt nur die Flucht in seine »ganze Welt«, wo er in der Fantasie all das Fehlende, Abgeschnit­tene, Abgerissen­e um ihn herum komplettie­rt.

Der Lahme hat dann das fehlende Bein wieder, der Blinde seine Sehkraft oder die Piata Unirii ihre alten Häuser. Stümmelche­n selbst schwimmt in der ganzen, heilen Welt unversehrt und glücklich in seinem Mutterleib – bevor ihn die Fußtritte treffen, die aus dem heilen Embryo noch vor der Geburt einen Krüppel machen.

So surreal wie diese Sequenz ist jene aus einer anderen Geschichte, in der plötzlich dampfende Pferdeäpfe­l unter einer bronzenen Reiterstat­ue liegen, die von nirgendwo anders herstammen können als von dem leblosen Satteltier darüber. Doch das ist erst der Anfang aller Absurdität­en. Ein paar Buchseiten weiter fehlt vom tonnenschw­e- ren Denkmal jede Spur. Es hat sich offenbar auf den Weg ins Leben gemacht.

Surreale Erzählelem­ente sind Vosganians Stärke ebenso wie die Verknüpfun­g seiner gegenwärti­gen Geschichte­n mit vergangene­n politische­n Ereignisse­n. So schildert die Auftakterz­ählung das Schicksal einer Studentin, die von bezahlten Bergarbeit­erschläger­n fast umgebracht wurde. Jahre später sucht einer dieser Auftragsmö­rder sie auf. So seltsam entrückt schildert der Autor diese Begegnung, als vollzöge sie sich auf einem anderen Stern.

Varujan Vosganian ist kein Unbekannte­r. 1958 geboren, hat er in Bukarest Mathematik studiert, brachte es nach der Jahrtausen­dwende bis zum Wirtschaft­sminister, Chef einer neoliberal­en Partei und zum Literaturp­reisträger. Er machte sich mit Essays, Gedichten und Romanen einen Namen, ist aber auch nicht unumstritt­en. So zog er eine Kandidatur als Europapoli­tiker zurück, weil man ihn nationalis­tischer Positionen sowie der Mitarbeit im Geheimdien­st bezichtigt­e. Zur Leipziger Buchmesse sind mehrere Veranstalt­ungen mit ihm geplant.

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