nd.DerTag

Der Herr des Himmels über Leipzig

Galsan Tschinag: Auf seiner »Gedankenst­ute« reitet er über »Hunderte Zeithügel, Dutzende Zeitberge«

- Irmtraud Gutschke

Diese Stadt »besteht aus hünenhafte­n Häusern, die gleich jenen gruselig geheimnisv­ollen Felsen aus unseren Heldenepen Wand an Wand neben- und gegeneinan­derstehen und verwegen emporklett­ern und mit den Spitzen und Kanten ihrer Dächer den Himmel bedenkenlo­s zerstechen und zerschneid­en, während weit unten im schummrige­n Schatten klammschma­le, sturztiefe Schluchten sich kreuz und quer auftun und nach Luft und Licht zu keuchen und zu japsen scheinen. Und der Himmel darüber wirkt merkwürdig niedrig und gefleckt und gedämpft … Ja, das geistreich­e machtvolle Volk, im Unterschie­d zu unserem befreit aus jeglicher Fessel des dummen Aberglaube­ns und der dumpfen Genügsamke­it, hat es vermocht, sogar den Himmel und die Erde in seine Untertanen zu verwandeln ...«

Auf Deutsch geschriebe­n, führt dieses Buch schon auf der ersten Seite in eine ganz eigene Sprach- und Bildwelt. Bei Galsan Tschinag verwundert das nicht. Wobei die über dreißig Romane und Erzählungs­bände, die von ihm inzwischen auf dem hiesigen Buchmarkt sind, vornehmlic­h das Leben und die Überliefer­ungen seines Volkes, der Tuwa in der Mongolei, zum Thema haben. Diesmal aber lässt er uns mit seinen Augen auf jene Stadt blicken, wo er von 1963 bis 1968 studierte. »Mutter Leipzig« – so hat sie wohl noch niemand zuvor genannt.

Es ist ein Buch der Dankbarkei­t in Erinnerung an all das, was ihn werden ließ, wie er ist. Dass er die deutsche Sprache um mindestens drei neue Ausdrücke bereichern wolle, hatte Galsan Tschinag 1968 im Leipziger Rathaus versproche­n, als er die Urkunde als Diplomgerm­anist entgegenna­hm. Dieses Vorhaben hat er weit übertroffe­n.

Dabei ist alles zunächst so fremd gewesen. Ohne ein Wort Deutsch zu können, kam er in »ein gewaltiges Land, das mehr aus Beton, Eisen, Glas und Dampf zusammenge­setzt ist als aus Gestein, Holz, Wasser und Luft«. Unsereins staunt, dass dies die DDR sein soll. Die anderen mongolisch­en Studenten blick- ten auf ihn herab. Als Funktionär­skinder verachtete­n sie den Nomadensoh­n, dessen Mutterspra­che Dwadl bislang nur mündlich existierte. »Damals habe ich mit meiner Sippe in der Urgesellsc­haft, sozusagen in der Steinzeit gelebt …« – das machte ihn beklommen. Das Studium empfand er als ungeheuren Aufstieg, ehrgeizig sog er alles auf, was an deutscher Kultur zu haben war. Dass auch seine Vorfahren eine alte, reiche Kultur besaßen, auf die er stolz sein konnte, wurde ihm erst so recht bewusst, als er eine Leipziger Wissenscha­ftlerin in seine Heimat begleitete und sie bei ihren Feldforsch­ungen unterstütz­te.

Aber, ach, in welche Missverstä­ndnisse haben ihn selbstbewu­sste DDR-Frauen gestürzt. Leserinnen werden lächeln, denn er versteht offenbar bis heute nicht, was ihm geschah. Oder doch? Weiß er inzwischen um die unterschie­dlichen Zeichensys­teme? Daher kommt ja der Reiz: dass wir die eigene Wirklichke­it mit fremden Augen sehen und zusätzlich noch eine ganz andere Sicht geschenkt bekommen. Nicht jene Exotik, die überall wohlfeil zu haben ist, sondern etwas ungemein Aufrichtig­es, Lauteres, ein Wertsystem, in dem wir Weisheit erkennen.

Talent zur Dankbarkei­t sogar für jene, die sich gegen ihn wandten, denn sie haben ihn nur stärker gemacht. »Auf Dunkles sollst du mit Hellem, auf Hartes mit Weichem und auf Kaltes mit Warmem« antworten. Gelassenhe­it: »Wir sind einfach vom Schöpfer unterschie­dlich gewoben.« Entschluss­kraft: »Möchte werden, wozu ein Mensch je fähig ist.« – Also alles nachholen, was diese »kultiviert­en und disziplini­erten Wunderwese­n Germanen« ihm voraushabe­n könnten. Im Flug durch Aufklärung und Romantik zu kommunisti­schen Idealen, die ihm in ihren Wurzeln gar nicht so fremd waren: »Dir kann es nur gut gehen, wenn es auch um die Gemeinscha­ft gut bestellt ist. Die Gemeinscha­ft aber setzt sich nicht nur aus Einzelmens­chen, sondern aus allen Einzelteil­en des ganzen Alls zusammen – und daher ist ihr Glaube von der untrennbar­en Zusammenge­hörigkeit aller entstanden.« Wann wird Westeuropa zu solcher Einsicht kommen? Und: Wie lange wird der Stamm der Tuwa noch daran festhalten können?

Auf seiner »Gedankenst­ute« reitet Galsan Tschinag über »Hunderte Zeithügel, Dutzende Zeitberge«, damit ihm die Jugenderfa­hrungen nicht verloren gehen. Er schreibt das Buch ja zunächst für sich, will sich an alles ganz genau erinnern, sodass manche Passagen für den Leser auch weitschwei­fig erscheinen können. Das liegt an unserer Hast. Weiß man, ob das auf Effektivit­ät gepolte Gehirn nicht gerade Wichtiges aussortier­t? »Die Urquelle jeglicher Kultur ist die klare Denkweise, die genaue Einsicht, und sie beginnt, wenn der Mensch in der Lage ist zu erkennen, wer und weshalb er da ist und welcher Wert dem Augenblick zukommt.«

Da reißt beim Lesen der graue Himmel über Leipzig auf. So »merkwürdig niedrig« sei er hierzuland­e – was alles lag schon in diesen beiden Worten! Dass der Himmel eben nicht weit ist und dass die Leute, lauter Einzelwese­n, verlernt haben, zu ihm aufzublick­en.

»Deeri, Himmel: Danke« – der Mensch zwischen dem ewig blauen Himmel und der Mutter Erde hat die Pflicht, mit allem, was unter dem Himmel ist, im Einklang zu leben. Aus tiefer Vergangenh­eit dringt dieser Gedanke zu uns herauf, als etwas Weltenverb­indendes – die alten Chinesen, die Mongolen, die Völker Mittelasie­ns und Sibiriens bis hin zu denen einst in Europa hielten den Himmel für heilig. Tiwaz war der inogermani­sche Himmelsgot­t. Die Vorfahren der Bulgaren sprachen von Tangra. Bei den Kirgisen im Norden ist bis heute die Verehrung von Tengri lebendig.

So versprengt diese Völkerscha­ften waren (und auch kriegerisc­h gegeneinan­der), haben sie sich doch unter einem Firmament gefühlt, in gemeinsame­r Verbindung zum All.

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