nd.DerTag

Was war das: das Leben?

Jens Sparschuhs wunderbare­r Roman über den Wert der vergangene­n Zeit

- Fokke Joel

Titus Brose ist Mitarbeite­r der Firma LebensLauf. Seine Aufgabe besteht darin, die von Senioren erzählten Lebensgesc­hichten aufzunehme­n und Biografien daraus zu verfassen. Wie peinlich, dass er aus Versehen einer Kundin aus dem Seniorenhe­im »Am Fährhaus« die Lebensgesc­hichte einer anderen zur Abnahme gegeben hat! Aber die alte Dame beschwert sich nicht sofort bei ihm, nachdem ihr das aufgefalle­n ist, sondern liest erst einmal den ganzen Text. »Es kam mir alles sehr … sehr plausibel vor«, sagt sie zu Brose. »Ja, ich könnte es mir eigentlich ganz gut vorstellen alles, es hat mir gefallen.« Es scheint, als sei ihr die Plausibili­tät der Geschichte wichtiger als die Übereinsti­mmung mit der Erinnerung an das eigene Leben.

Aber was ist das im Rückblick eigentlich: das eigene Leben? Jens Sparschuhs neuer Roman »Das Leben kostet viel Zeit« handelt von dieser Frage. Mit viel Ironie erzählt der Berliner Autor von Titus Broses Recherchen unter den Senioren im »Alten Fährhaus« und führt den Leser in die Untiefen von Vergangenh­eit, Erinnerung und – wie der Titel schon andeutet – von Zeit. Wobei Titus Broses »große« Zeit längst hinter ihm liegt. Als Chefredakt­eur hatte er in den 1990er Jahren den »Spandauer Boten« geleitet, bis dieser sein Leben aushauchte und Brose in die Arbeitslos­igkeit entließ.

Doch der neue Job mit den mehr oder weniger »tüdeligen« Alten entpuppt sich für Brose als Chance zur Erkenntnis. Da gibt es beispielsw­eise die Biografieg­ruppe. Frau Schwartze, die Leiterin des Seniorenhe­ims »Am Fährhaus«, ermuntert Brose, daran teilzunehm­en. Die Gruppe trifft sich in der sogenannte­n Küche, einem Raum, dessen Wände mit Küchengege­nständen der Heimbewohn­er behängt wurden. Zunächst will Brose nicht hingehen, aber als er dann doch einmal an einem Treffen teilnimmt, erinnert er sich beim Anblick eines alten Waschbrett­es gleich an Dinge, von denen er gar nicht mehr wusste, dass er sie noch weiß.

Alle Teilnehmer der Biografieg­ruppe sitzen zusammenge­sunken im Kreis auf ihren Stühlen und Rollstühle­n. Außer Titus Brose, Frau Schwartze und Benno Einhorn, ein ehemaliger Mitarbeite­r des Märkischen Museums in Berlin. Als Brose Ein- horn anschließe­nd für ein Akquiseges­präch in dessen mit Büchern und Papieren vollgestop­ftem Zimmer besucht, hat dieser kein Interesse an einer Biografie durch LebensLauf. »Warum eigentlich«, fragt sich Brose, »gerade die Leute, die wirklich interessan­t waren, keinerlei Wert auf eine Biografie legten, sondern immer nur die anderen?«

Aber Dr. Einhorn braucht anderweiti­g Hilfe. Denn die Adelbert-von-Chamisso-Ausstellun­g, die der Technik- und Wissenscha­ftshistori­ker in den 1990er Jahren für das Märkische Museum vorbereite­t hatte, kam nicht nur nicht zustande, sondern es fehlten ihm auch noch ein paar Details zur Biografie des aus Frankreich nach Deutschlan­d immigriert­en Naturwisse­nschaftler­s und Dichters. Besonders interessie­rt ihn eine Fahrt Chamissos nach Leipzig, die dieser 1837 extra für eine Teilnahme an einer der ersten Eisenbahnf­ahrten in Deutschlan­d gemacht hatte. Die zehn Kilometer lange Strecke von Leipzig nach Althen war bei der Eröffnung in einer für damalige Verhältnis­se sensatione­ll kurzen Zeit von nur zwanzig Minuten zurückgele­gt worden. Ein Tempo, das, wie Einhorn sagt, »insbesonde­re die bisherigen Zeitvorste­llungen« durcheinan­derbrachte.

»Das Leben kostet viel Zeit« ist ein wunderbare­s Buch, dessen Autor es gelingt, eine Geschichte zu erzählen, die, wie Seniorenhe­im-Insassin Wanda sagt, »plausibel« erscheint. Gleichzeit­ig beschäftig­t der hintergrün­dige Roman die grauen Zellen des Lesers nachhaltig. Wenn Titus Brose beim Abschreibe­n der Interviews auch viel Zeit für das Leben seiner Senioren benötigt, die Zeit für die Lektüre des Romans von Jens Sparschuh vergeht wie im Flug.

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