Ich im Präteritum und Futur II
Julia Schoch lässt 16 Menschen über die Zeit vor und nach 1989 reflektieren
Ist schon eigenartig, wenn so ein Ereignis, für das man gar nichts kann, das Leben in zwei Hälften teilt. Genau mit diesem Davor und Danach haben die Protagonisten in Julia Schochs Roman »Schöne Seelen und Komplizen« zu tun. Das Ich im Präteritum und Futur II: Was war ich, was werde ich gewesen sein? Es treten auf: 16 Menschen, die 1989 an einer Potsdamer Eliteschule kurz vor dem Abitur stehen. Plötzlich ist die Mauer weg und nichts mehr wie vorher. Da muss doch was kommen jetzt. Alles anders, Freiheit, Westen, Lucky Strike.
Aber das Schöne an diesen 16 Stimmen ist, dass genau diese angenommene Sehnsucht in keiner Episode eine Rolle spielt. Es geht um die kleinen Scheinwerfer, die Schoch auf die Ausschnitte im Leben dieser Menschen richtet. Es sind die Wochen vor dem Mauerfall, die mit dem Heute kontrastieren, dabei bleiben die Protagonisten in diesen 30 Jahren ihrem Ich treu.
Wer vor der Wende mit den Angepassten nichts anfangen konnte, der fühlt sich auch im Kapitalismus verloren zwischen all den Hinnehmern und Stillhaltern, die nicht gegen die asphaltierte Straße vor dem Haus protestieren wollen, der die Apfelbäume zum Opfer fallen werden. Und wer damals mit den Möchtegern-Subversiven aus der Eckkneipe fremdelte, der freut sich Jahre später am meisten auf das aufgeräumte Wohnzimmer und den Moment, in dem man nach der Betriebsfete verschwörerisch mit dem Ehemann über die Kollegen herziehen kann. Warum sollten sich die Menschen auch um 180 Grad drehen, nur weil es die DDR nicht mehr gibt?
Lydia, Bodo, Kati, Martin, Tomas, Vivien, Christoph, Britta, Ellen, Rebekka, Cornelia, Franziska, Falk, Alexander, Ruppert und Stefanie, ihnen geht es nicht um die große Politik, eine herbeieuphorisierte Aufbruchstimmung, die Enttäuschung über den angeblich goldenen Westen und wehleidige Rückblicke. Es geht, jeder und jedem mit eigener Stimme – das ist bei dem Ensemble virtuos durchkomponiert –, um Liebe, Alltagsphobie, Anerkennung und die Frage, nach wie viel Zeit die Vergangenheit wohl aufhört, wichtig zu sein.
Dabei ist an dem Personenpanoptikum nichts banal. Schoch greift in den kleinen Erzählungen, die meist nicht länger als drei oder vier Seiten bei einer Person verweilen, die Stolperer heraus, die nur einer Generation passieren können, die in der DDR groß, aber nicht alt geworden ist. Sie bleiben hängen an den Punkten, an denen sie merken, dass der Mauerfall nicht nichts mit ihnen zu tun hat. Und Schoch schreibt das so geschickt auf, dass sich die Sätze erst wie eine irre präzise, aber harmlose Alltagsbeobachtung zusammenschieben und schließlich, zack, von einem Absatz zum nächsten vor Bedeutung fast explodieren.
Da lesen wir von zerstörerischem Liebeskummer, um dann, ein paar Sätze später, die volle Ost-Offenbarung in all ihrer Iro- nie zu erleben, wenn Vivien sagt: »Alles, was uns später nicht gelingt, das ganze öde Leben, schieben wir einfach auf jetzt, auf das, was gerade abläuft um uns herum.« Das ist nicht nostalgisch oder wehleidig, das ist keine Resignation, die im Buch über 300 Seiten zelebriert wird, sondern hellsichtige Immerweiterleben-Prosa.
Komplex ist auch das ElternKind-Verhältnis, das in einigen Geschichten sachte angedeutet wird. So erzählt Alexander von seinem Vater, einem Künstler, der, nachdem er seine Stasi-Akte gelesen hat, über dem Verrat verrückt wurde. Vivien, die er an der Bushaltestelle trifft, antwortet ihm: »Versuche nicht, es mit deiner Logik zu verstehen.« Ganz anders Lydia, deren Eltern sich bravourös in die neue Zeit gerettet haben, mit neuem Auto, neuer Wohnung, Vater in Bonn.
Schoch geht ganz nah an ihre Figuren ran, dabei wissen wir von keinem, wie er überhaupt aussieht. Atmosphäre interessiert Schoch nicht, sie lässt über die Reflexionen ihrer Protagonisten oder das, was über sie gesprochen wird, Bilder entstehen. Wie das vom schlauen, introvertierten Bodo, den alle seltsam finden und der vom neuen Schulrektor aus dem Westen bei der Abschlussfeier gesagt bekommt: Es wird nicht mehr ausreichen, viel zu wissen, man muss sich auch präsentieren können.
Am Ende hat Schoch wohl jegliche Empfindungen und Gedanken abgebildet, die diese Generation prägen, dabei ist es schon unangenehm, dass man ihr nicht mal vorwerfen kann, nur Breite, aber keine Tiefe zu kennen.