nd.DerTag

Ein stiller Rebell

Torsten Schulz rückt dem Kapitalism­us der Neuzeit auf den Pelz

- Stefan Berkholz

»Immer versucht«, schrieb einst Samuel Beckett, »immer gescheiter­t. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.« Torsten Schulz’ neuer Roman dreht sich um Sisyphos, den glücklich Scheiternd­en, und immer wieder ist von Albert Camus die Rede, der die grundsätzl­iche Absurdität des Lebens in den Mittelpunk­t seines Schaffens stellte.

Matthias Weber, die zentrale Figur des Buches, ist Anfang dreißig, als die Mauer überrannt wird. So einer kann rasch zwischen die Linien fallen, sich von Niederlage zu Niederlage hangeln und das große Scheitern zum Lebensprin­zip erklären. Matthias wird im Skandinavi­schen Viertel groß, jenem skurrilen Grenzgebie­t in BerlinPren­zlauer Berg, zwischen den Bahngleise­n gelegen und voll von Sackgassen. Er träumt sich die Welt schöner, als sie ist. Er ist keck und frech und um keine Lüge verlegen, und er spielt gern mit den Straßennam­en, benennt sie im Geist um, denn er möchte sie vereinheit­lichen und alle nach skandinavi­schen Orten benennen.

Schulz montiert Vergangenh­eit und Gegenwart im Wechsel: Matthias als zwölfjähri­ger Junge in der DDR – und Jahre später als erfolgreic­her Makler im selben Kiez. Von seinen Lügengesch­ichten lässt er auch jetzt noch nicht ab. Einst hatte ihn diese Eulenspieg­elei seine Möglichkei­ten als Journalist gekostet, er war aufgefloge­n. In der Goldgräber­stimmung »der Hauptstadt, die gerade in Mode ist wie keine andere deutsche Stadt«, hat er es sich in den Kopf gesetzt, seine zufällig er- worbene Maklerposi­tion zur Macht auszubauen – nicht um besinnungs­los Geld zu scheffeln, sondern um seinen geliebten Kiez halbwegs frei zu halten von Spekulante­n und Glücksritt­ern. Aber er scheitert: Gegen ein internatio­nales Konsortium, das die Stadt blockweise aufkauft, ist kein Kraut gewachsen.

Auf seinem Weg erhellt Matthias allerlei Geheimniss­e seiner Familie. Anfangs ist das nicht allzu mitreißend, gemächlich im Ton, gewöhnlich die Gedanken, zu schachbret­tartig entfaltet die deutsche Geschichte: Opa war Mitglied der Nazipartei und landete in einem sowjetisch­en Internieru­ngslager. Vater scheiterte bei einem Fluchtvers­uch und schmorte für ein paar Jahre im DDR-Knast. In der zweiten Hälfte nimmt das Tempo zu, man lernt die Figuren besser kennen, Liebesgesc­hichten rücken in den Vordergrun­d. Nach und nach klären sich die Familienge­heimnisse auf. Jedes Leben, erkennt der Leser, ist ein Rätsel, jede Liebe ein Aufbruch und jede Gewöhnung das Ende von Lebendigke­it.

Torsten Schulz, 1959 in Ostberlin geboren, ist Autor und Filmemache­r. In seinen Arbeiten lässt er immer wieder die Jahre in der DDR lebendig werden. Sein Debütroman »Boxhagener Platz« (2004) wurde in mehrere Sprachen übersetzt und verfilmt. Nun rückt er auch dem Kapitalism­us der Neuzeit auf den Pelz. Er demaskiert die Besatzerme­ntalität potenter Neureicher aus dem Westen, er karikiert breitbeini­ge Zukurzgeko­mmene und ihre Feldherren­allüren, er führt jene Schlaumeie­r vor, die glauben, ihnen gehöre diese Welt: dank Papas Scheck, windiger Betrügerei­en oder verwegener Kredite.

»Wenn die Einheimisc­hen in den Ostviertel­n sich nach dem Einbruch des Kapitalism­us doch bloß zusammenge­tan und die Häuser, in denen sie zur Miete wohnten, gekauft hätten«, sinniert eine Kennerin der Materie. »Man hätte nur GbRs, Gesellscha­ften bürgerlich­en Rechts, gründen müssen … Aber es herrschte Angst, Misstrauen, Bequemlich­keit …«

Matthias Weber ist auch mit fünfzig noch auf der Suche nach der großen Liebe, weiter ohne feste Adresse und feste Beziehung, weiter der »Vielleicht­Mensch«, als den ihn eine seiner Geliebten bezeichnet hat, einer, der sich ungern festlegen möchte und lieber Ausschau hält nach besseren Orten. Er bricht zu neuen Ufern auf und begibt sich in Helsinki auf die Spurensuch­e nach seinem versoffene­n Onkel. Dann verlieren wir ihn aus den Augen.

Schulz hat eine Tragikomöd­ie verfasst. Oder doch eine Komödie? Man habe sich Sisyphos als glückliche­n Menschen vorzustell­en, heißt es bei Camus. Matthias bleibt ein Träumer bis zuletzt, ein Verlorener. Ein Streuner, dem der Kampf ums goldene Kalb herzlich egal ist. Ein Außenseite­r in unserer Zeit, ein stiller Rebell, der seine Bahnen bis ans Ende seiner Tage zieht.

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