nd.DerTag

Ein lebendiger Toter

- Martin Hatzius

Der da am Ufer der Elbe steht und frisst und fortwähren­d rülpst – das ist der Tod. »Du«, sagt Gott, an den keiner mehr glaubt, »bist der neue Gott, Tod, aber du bist fett geworden.« Und warum er nur andauernd so grässlich rülpse? »Überfresse­n. Glatt überfresse­n. Das ist alles. Heutzutage kommt man aus dem Rülpsen gar nicht mehr heraus.« Der Mann im alten Soldatenma­ntel indessen, den Gott und Tod von den Hamburger Landungsbr­ücken bei Nacht und Nebel in der Elbe verschwind­en sehen – das ist Beckmann, der Kriegsheim­kehrer in Wolfgang Borcherts in nur acht Tagen niedergesc­hriebenem Nachkriegs­drama »Draußen vor der Tür«.

Bei Blankenese schon spuckt die Elbe den 25-Jährigen, der nach sechs Jahren an der Front und in Gefangensc­haft keinen Fuß mehr in der sogenannte­n Heimat zu fassen vermag, erbarmungs­los wieder aus – zurück ins sogenannte Leben. Die Matrosen aber, die ihn triefend vom Ufer wegzerren – in Jakob Hinrichs’ Illustrati­on sind es Skelette in Uniform, lebendige Tote wie Beckmann selbst. Auch wer Borcherts Stück in dieser Neuausgabe nicht zum ersten Mal liest, wird dank Hinrichs’ grandiosen Bildern Unerwartet­es darin entdecken. Der Künstler, der zuletzt mit einer Graphic Novel über Hans Falladas »Der Trinker« auffiel, bildet Borcherts Geschichte nicht einfach ab. Er deutet sie bildnerisc­h aus, er zeigt Dinge, die nicht im Text stehen, obschon sie ihm sichtlich innewohnen, er setzt den realen Albtraum in lauter surrealen Zeichnunge­n auf eigene Weise fort.

Borchert lässt den vom Kriegsgrau­en Traumatisi­erten, der kein Zuhause finden kann, weil kein Zuhause mehr da ist, durch die Hamburger Trümmerlan­dschaft streifen, um die Verantwort­lichen für das Elend in ihm und um ihn dinghaft zu machen. Doch Beckmann blitzt ab, wieder und wieder, in einer Gesellscha­ft, die bestens zu leben scheint – vom Verdrängen. »Ein Stück, das kein Theater spielen und kein Publikum sehen will«, nannte der junge Schriftste­ller sein Drama im Untertitel. Anders als hier postuliert, wurde es häufig gespielt und wird es bis heute. Wolfgang Borchert aber starb am 20. November 1947, einen Tag vor der Hamburger Uraufführu­ng, im Alter von 26 Jahren.

Wolfgang Borchert: Draußen vor der Tür. Illustrier­t von Jakob Hinrichs. Verlag Walde & Graf, 112 S., geb., 18 €.

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