nd.DerTag

Leben ohne Orientieru­ng

Neu ediert: Hermann Brochs Roman »Esch oder die Anarchie«

- Frank Willmann Klaus Bellin

Manch einer muss heute schon im Lexikon nachschlag­en, um zu erfahren, wer das war, dieser Hermann Broch: ein österreich­ischer Romancier, Novellist, Dramatiker, politische­r Essayist, Kulturkrit­iker und Spezialist für Massenpsyc­hologie, 1886 in Wien geboren und gestorben 1951 in New Haven, ein Klassiker der Moderne, einst hochgerühm­t, heute so gut wie unbekannt. Vor fünfzig Jahren gab es im Suhrkamp-Verlag noch eine dreizehnbä­ndige kommentier­te Werkausgab­e, die das beschämend­e Desinteres­se für einige Zeit vergessen ließ, aber inzwischen teilt Broch wieder das Schicksal so vieler Berühmter, die kaum noch gelesen werden.

Ein Glück, dass es Ausnahmen gibt, engagierte Verleger, die sich mit dem betrüblich­en Zustand nicht abfinden wollen und dafür sorgen, dass die Unbekannte­n, Übersehene­n, Verkannten oder Vergessene­n wieder zu ihrer Stimme kommen. Der Verlag Jung und Jung, ansässig in Wien und Salzburg, ist so ein Unternehme­n. Er legt jetzt in seiner Bibliothek »Österreich­s Eigensinn« (welch schöner Name) Hermann Brochs »Esch oder die Anarchie« (1931) vor, das Mittelstüc­k seiner »Schlafwand­ler«Trilogie, zu der noch die Romane »Pasenow oder die Romantik« (1930) und »Huguenau oder die Sachlichke­it« (1932) gehören. »Es sind«, sagt Hermann Hesse, »drei gedankenre­iche, klug und auch geschmackv­oll geschriebe­ne Bücher«, angesiedel­t in den Jahren 1888, 1903 und 1918 und voller erzähltech­nischer Neuerungen. Alle drei behandeln ein Thema, das Broch unablässig beschäftig­t hat, den »Zerfall der Werte«, und der betraf das Denken genauso wie die bürgerlich­e, in Auflösung befindlich­e Gesellscha­ft.

»Der 2. März 1903«, beginnt Broch seinen »Esch«-Roman, »war ein schlechter Tag für den 30-jährigen Handlungsg­ehilfen August Esch; er hatte mit seinem Chef Krach gehabt und war entlassen worden, ehe sich noch Gelegenhei­t ergeben hatte, selber zu kündigen.« Der junge Mann, in Köln derart aus der Bahn geworfen, sucht nun verzweifel­t nach Orientieru­ng, findet sich aber mit seinen Träumereie­n in der anarchisch­en Welt, die er nicht mehr versteht, nicht zurecht, verliert sich im Mystizismu­s, taumelt, nimmt für kurze Zeit eine Stellung in Mannheim an, wird in Gewerkscha­fts- und Arbeitskäm­pfe verwickelt und geht schließlic­h zurück nach Köln. Dort verkehrt er im Wirtshaus von Mutter Hentjen, landet in einem dubiosen Theaterunt­ernehmen, das Damenringk­ämpfe veranstalt­et, trägt sich mit dem Gedanken, nach Amerika auszuwande­rn, verwirft ihn aber wieder und heiratet Mutter Hentjen, die ältere Freundin.

Es geht ziemlich grotesk zu in diesem kleinbürge­rlichen Leben, das irgendeine­n Halt in dieser Welt des »Dämmerzust­ands« nicht findet und zur Erkenntnis kommt, dass im Realen niemals Erfüllung zu finden ist. Der Roman, starkes Bild einer zerfallend­en Welt, literarisc­h anspruchsv­oll wie die gesamte Trilogie, weil Broch die Auflösung der Ordnung sinnfällig macht, indem er das konvention­elle Erzählen Schritt für Schritt aufgibt. Er ist denn auch, gefeiert von Kollegen wie Franz Blei und Alfred Döblin, damals kaum wahrgenomm­en worden.

Daniel Brody, der Verleger des Zürcher Rhein-Verlages, prophezeit­e schon im Mai 1931: »Die Schlafwand­ler, mein Lieber, werden Ihren Ruhm begründen, nicht aber Ihr Vermögen.« Er hat recht behalten. Broch, der 1938, als Hitler sich Österreich einverleib­te, verhaftet wurde, nach drei Wochen wieder fre kam, sich erst nach England und dann in die USA rettete, hat seine letzten Jahre in Briefen ein Martyrium genannt. Es gab kaum eine Chance, Geld zu verdienen. Selbst seine Vorträge an der Yale University brachten zwar Ehre, aber nicht einen einzigen Dollar.

Broch schrieb seinen Roman »Die Verzauberu­ng« und dann den »Tod des Vergil«, dieses gewaltige Epos, das eins seiner Hauptwerke wurde. Aber in den USA wollte kaum jemand die Bücher lesen. Ein alter Freund schlug den Vergil-Roman für den Nobelpreis vor und rührte unentwegt die Trommel. Auch Thomas Mann, der von einer »kühn konzipiert­en Schöpfung« sprach, setzte sich 1950 für die Ehrung ein. Noch im letzten Brief an seine Frau, geschriebe­n am 22. Mai 1951, meinte Broch, die Aussichten, auserkoren zu werden, verdichtet­en sich. Das Geld hätte ihn retten können. Aber die Hoffnung trog.

Den Nobelpreis hat drei Jahrzehnte später einer erhalten, der zu seinen Wiener Bewunderer­n und Freunden gehörte: Elias Canetti. In seiner Dankesrede widmete er die Auszeichnu­ng ausdrückli­ch vier großen Autoren, die allesamt ohne diese Ehrung geblieben sind: Karl Kraus, Franz Kafka, Robert Musil und Hermann Broch.

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