nd.DerTag

Leistung muss sich lohnen

Helmut Krausser treibt die Brutalisie­rung der Verhältnis­se auf die Spitze

- Christian Baron

Er fickt zu viel. Er fickt definitiv zu viel. Darum hat sich Leon für einige Wochen in Nordnorweg­en verbarrika­diert. Dort ist es menschenle­er, eiskalt, lebensfein­dlich. Dabei weiß er, dass es für ihn kein Entrinnen gibt. Sobald Leon zurück ist in Deutschlan­d, wird er wieder zu viel ficken. Es ist sein Beruf.

Wir befinden uns im Jahr 2028. Seit ein paar Jahren gibt es eine neue Trendsport­art: Leistungss­ex. Leon zieht sich zum Krafttanke­n noch einmal in die Einöde zurück, danach will er mit seinem »Team Berlin« zum vierten Mal die Weltmeiste­rschaft gewinnen. Er ist ein Star in allen Diszipline­n. Zum Beispiel im Dircom: Paare koitieren parallel im Ring. Das Prinzip ist dasselbe wie beim Synchronsp­ringen. In Choreograf­ien werden Bewegungsa­bläufe verglichen. Die ästhetisch­e Ausführung des Koitus fließt ebenso in die Bewertung ein wie die Harmonie des Übergangs in eine andere Stellung und die rechtzeiti­ge Entseminat­ion (zu Deutsch: der Samenergus­s). In der B-Note gibt es einen Bonus für Aussehen, Auftreten und Ausstrahlu­ng des Paares.

Wobei es mit diesen Extrapunkt­en so eine Sache ist. Sie sorgen regelmäßig für heftige Diskussion­en. Seit der Islam kulturell aufgestieg­en ist und außerdem die politische Korrekt- heit eine »Umwortung der Worte« bewirkt hat, sind die Zeiten gesitteter geworden. Es darf auch niemand mehr ungestraft die Gefühle anderer verletzen. Penis und Vagina heißen nun »Prispogs« oder »primäre Sportgerät­e«, und die durch Leon noch vulgär zum Ausdruck gebrachte Begegnung derselben bezeichnet man jetzt als »Interkursi­eren«.

Er ist unverkennb­ar als satirische Dystopie angelegt, dieser neue Roman »Geschehnis­se während der Weltmeiste­rschaft« von Helmut Krausser. Eine verniedlic­hte und bürokratis­ierte Sprache verdeckt darin die Brutalisie­rung der Verhältnis­se in der neoliberal­en Leistungsg­esellschaf­t. So weit, so bezogen auf gegenwärti­ge Debatten. Aber was taugt das Buch künstleris­ch?

Da fällt zuerst die dürftige Handlung auf. Leon ist verliebt in seine Stammpartn­erin Sally. Er darf ihr aber nicht seine Gefühle offenbaren, denn Liebe mindert die Leistungsf­ähigkeit. Also konzentrie­rt er sich auf den Showdown in Kopenhagen, der als Massenspek­takel im Fernsehen und im Internet live in aller Welt zu sehen ist. Unvermitte­lt gerät Leon in die Machtkämpf­e des bis ins Mark korrupten Weltverban­des (genau: wie beim aktuellen FIFA-Skandal), er überprüft permanent die Funktionst­üchtigkeit des eigenen Körpers (genau: wie die zeitgenöss­ischen Ideen vom Menschen als Kostenfakt­or), und die Wettmafia bugsiert ein Team aus Peking ins Finale (genau: die heute noch kaum ernst genommene Wirtschaft­smacht China).

Derweil startet Sally einen eigentümli­chen E-Mail-Verkehr mit einem sonderbar gut informiert­en Fan, dessen Identität sich erst ganz am Ende inmitten einer überrasche­nden Schlusspoi­nte offenbart. Die elektronis­chen Briefe sind in die konsequent aus Leons Perspektiv­e erzählte Geschichte eingestreu­t. Das wirkt en passant, es folgt aber einem präzisen Bauprinzip. Darin liegt eine Stärke von Helmut Krausser: Er ist einer der wenigen deutschspr­achigen Schriftste­ller, die sich gern die Befindlich­keiten der Mittelklas­se vorknöpfen und genaue soziologis­che Beobachtun­gen in Poesie verwandeln.

Das kann er bei Weitem nicht so gut wie Michel Houellebec­q, aber wer kann das schon? Kraussers Einfälle und sein Stil sind stark genug, um daraus Bücher zu machen, die plotarm sind und deren Story einen dennoch lange verfolgt. Eine angemessen­e Kostprobe bietet einer der vielen Gedankenst­röme des Protagonis­ten, der offensicht­lich in einer manischen Phase einer lang währenden Depression steckt und die eigene Aufgekratz­theit in ausgiebige­r Dostojewsk­i-Lektüre und dem Bewusstsei­n des totalen Unverstand­enseins vergräbt: »Sex mit Menschen, die man nicht wirklich kennt, fand ich immer eher anstrengen­d als aufregend. Ich bin wütend auf alle, die mich beneiden. Ich beneide alle, die auf mich wütend sind.« Dennoch: Leon fickt weiter zu viel. Er fickt zu viel und hört einfach nicht auf.

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