Leistung muss sich lohnen
Helmut Krausser treibt die Brutalisierung der Verhältnisse auf die Spitze
Er fickt zu viel. Er fickt definitiv zu viel. Darum hat sich Leon für einige Wochen in Nordnorwegen verbarrikadiert. Dort ist es menschenleer, eiskalt, lebensfeindlich. Dabei weiß er, dass es für ihn kein Entrinnen gibt. Sobald Leon zurück ist in Deutschland, wird er wieder zu viel ficken. Es ist sein Beruf.
Wir befinden uns im Jahr 2028. Seit ein paar Jahren gibt es eine neue Trendsportart: Leistungssex. Leon zieht sich zum Krafttanken noch einmal in die Einöde zurück, danach will er mit seinem »Team Berlin« zum vierten Mal die Weltmeisterschaft gewinnen. Er ist ein Star in allen Disziplinen. Zum Beispiel im Dircom: Paare koitieren parallel im Ring. Das Prinzip ist dasselbe wie beim Synchronspringen. In Choreografien werden Bewegungsabläufe verglichen. Die ästhetische Ausführung des Koitus fließt ebenso in die Bewertung ein wie die Harmonie des Übergangs in eine andere Stellung und die rechtzeitige Entsemination (zu Deutsch: der Samenerguss). In der B-Note gibt es einen Bonus für Aussehen, Auftreten und Ausstrahlung des Paares.
Wobei es mit diesen Extrapunkten so eine Sache ist. Sie sorgen regelmäßig für heftige Diskussionen. Seit der Islam kulturell aufgestiegen ist und außerdem die politische Korrekt- heit eine »Umwortung der Worte« bewirkt hat, sind die Zeiten gesitteter geworden. Es darf auch niemand mehr ungestraft die Gefühle anderer verletzen. Penis und Vagina heißen nun »Prispogs« oder »primäre Sportgeräte«, und die durch Leon noch vulgär zum Ausdruck gebrachte Begegnung derselben bezeichnet man jetzt als »Interkursieren«.
Er ist unverkennbar als satirische Dystopie angelegt, dieser neue Roman »Geschehnisse während der Weltmeisterschaft« von Helmut Krausser. Eine verniedlichte und bürokratisierte Sprache verdeckt darin die Brutalisierung der Verhältnisse in der neoliberalen Leistungsgesellschaft. So weit, so bezogen auf gegenwärtige Debatten. Aber was taugt das Buch künstlerisch?
Da fällt zuerst die dürftige Handlung auf. Leon ist verliebt in seine Stammpartnerin Sally. Er darf ihr aber nicht seine Gefühle offenbaren, denn Liebe mindert die Leistungsfähigkeit. Also konzentriert er sich auf den Showdown in Kopenhagen, der als Massenspektakel im Fernsehen und im Internet live in aller Welt zu sehen ist. Unvermittelt gerät Leon in die Machtkämpfe des bis ins Mark korrupten Weltverbandes (genau: wie beim aktuellen FIFA-Skandal), er überprüft permanent die Funktionstüchtigkeit des eigenen Körpers (genau: wie die zeitgenössischen Ideen vom Menschen als Kostenfaktor), und die Wettmafia bugsiert ein Team aus Peking ins Finale (genau: die heute noch kaum ernst genommene Wirtschaftsmacht China).
Derweil startet Sally einen eigentümlichen E-Mail-Verkehr mit einem sonderbar gut informierten Fan, dessen Identität sich erst ganz am Ende inmitten einer überraschenden Schlusspointe offenbart. Die elektronischen Briefe sind in die konsequent aus Leons Perspektive erzählte Geschichte eingestreut. Das wirkt en passant, es folgt aber einem präzisen Bauprinzip. Darin liegt eine Stärke von Helmut Krausser: Er ist einer der wenigen deutschsprachigen Schriftsteller, die sich gern die Befindlichkeiten der Mittelklasse vorknöpfen und genaue soziologische Beobachtungen in Poesie verwandeln.
Das kann er bei Weitem nicht so gut wie Michel Houellebecq, aber wer kann das schon? Kraussers Einfälle und sein Stil sind stark genug, um daraus Bücher zu machen, die plotarm sind und deren Story einen dennoch lange verfolgt. Eine angemessene Kostprobe bietet einer der vielen Gedankenströme des Protagonisten, der offensichtlich in einer manischen Phase einer lang währenden Depression steckt und die eigene Aufgekratztheit in ausgiebiger Dostojewski-Lektüre und dem Bewusstsein des totalen Unverstandenseins vergräbt: »Sex mit Menschen, die man nicht wirklich kennt, fand ich immer eher anstrengend als aufregend. Ich bin wütend auf alle, die mich beneiden. Ich beneide alle, die auf mich wütend sind.« Dennoch: Leon fickt weiter zu viel. Er fickt zu viel und hört einfach nicht auf.