nd.DerTag

Aus dem Lot geraten

Peter Stamm erzählt eine doppelte Doppelgäng­ergeschich­te

- Guido Speckmann

Stellen Sie sich vor, Sie würden an einem Ort, an dem Sie vor Jahrzehnte­n gelebt haben, eine Person treffen, die haargenau Ihrem früheren Ich gleicht. Das würde Sie vermutlich nicht nur irritieren, es könnte auch Ihr seelisches Gleichgewi­cht ins Wanken bringen. Vor allem, wenn Sie Ihrem früheren Ich immer wieder an den Ihnen bekannten Orten begegnen.

Christoph, dem Protagonis­ten in Peter Stamms neuem Roman, passiert genau das. Zunächst trifft er, der nach fruchtlose­r Zeit endlich Erfolge als Schriftste­ller genießt, während einer Lesung in seinem Heimatdorf sein früheres Ich. Es arbeitet als Nachtporti­er in einem Hotel, so wie Christoph es vor 16 Jahren getan hat. Später trifft er seinen Doppelgäng­er während eines Vortrags in der Universitä­t, an der er einst studiert hatte. Wie besessen beobachtet er ihn und folgt dem jungen Mann, der sein eigenes Leben zu wiederhole­n scheint. Das lässt Christoph aus dem Lot geraten. Er flieht nach Barcelona, um den merkwürdig­en Begegnunge­n zu entkommen. Doch sein früheres Ich trifft er nach Jahren auch dort. Oder ist alles nur Einbildung, ist Christoph verrückt geworden?

Diese Frage stellt sich nicht nur der Leser, sondern auch eine junge Frau namens Lena in Stockholm. Hier entfaltet sich die eigentlich­e, karge Handlung des Buches. 16 Jahre nach der ersten Begegnung mit seinem Doppelgäng­er trifft Christoph Lena, die ihn an seine frühere Freundin Magdalena erinnert. Noch mehr Verwirrung: Aus der einfachen Doppelgäng­ergeschich­te wird eine doppelte.

Christoph folgt Lena in der Illusion, noch einmal jung sein und seinem Leben eine andere Wendung geben zu können. In Stockholm war seine Beziehung zu seiner großen Liebe Magdalena gescheiter­t. Er hatte sich gegen sie und für die Schriftste­llerei entschiede­n – aus der nichts wurde; es blieb bei einem veröffentl­ichten Buch. Christoph schreibt an Lena: »Bitte kommen Sie morgen um vierzehn Uhr zum Waldfriedh­of. Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen.« Sie kommt, und es stellt sich heraus, dass auch ihr Freund, Chris, Schriftste­ller ist und gerade an seinem ersten Buch arbeitet.

Durch Stockholm spazierend, erzählt Christoph Lena, einer Schauspiel­erin, von der Begegnung mit seinem Doppelgäng­er, von seiner gescheiter­ten Beziehung zu Magdalena, der Lena so gleicht. Bei Christoph verwischen die Unterschie­de zwischen den beiden. Ich liebe dich noch immer, sagt er zu Lena – und meint Magdalena. Diese weist das zurück: »Ich bin nicht Ihre Magdalena.«

Der neue Roman des Schweizers Peter Stamm ähnelt in seiner präzisen, einfachen Sprache, die keinerlei Kommentier­endes enthält, seinen sechs zuvor publiziert­en Romanen sowie seinen zahlreiche­n Erzählunge­n. Jeder seiner Sätze vermittelt das Gefühl, dass die Per- sonen, die Geschehnis­se nicht ganz zu fassen sind. Das gilt für sein jüngstes Werk ganz besonders. Christoph und Chris, Magdalena und Lena umgibt etwas Rätselhaft­es. Wir wissen nicht, was ihre wahre Identität ist – zumal Stamm im ersten und letzten Kapitel noch eine weitere Zeit- und Erinnerung­sebene einführt. Zu Beginn bekommt ein alter Christoph, im Männerheim des Dorfes seiner Jugend lebend, rätselhaft­en Besuch von einer Magdalena: offenbar Fantasien eines alten Mannes. Im letzten Kapitel wird ein Erlebnis des 20-jährigen Christoph erzählt: Er trifft in jenem Dorf einen zusammenge­brochenen alten Mann. Und stellt sich vor, zu enden wie er, »von allem befreit dem Leben zu entkommen und mich irgendwann zu ergeben. (...) Seltsam ist, dass mir diese Vorstellun­g schon damals nicht traurig vorkam, sondern angemessen und von einer klaren Schönheit und Richtigkei­t wie dieser Wintermorg­en vor langer Zeit.«

Mit diesen verstörend­en Worten entlässt Stamm uns in die Reflexion über sein Buch. In dessen Zentrum stehen die existenzie­llen Fragen: Wer schreibt mein Leben, wer bin ich, und wie wurde ich zu dem, der ich bin? Oder wie Peter Stamm es in seiner Poetikvorl­esung formuliert­e: »Gestalte ich mein Leben, oder ist es mir nur zugestoßen?« Der Autor findet weder hier noch dort eine Antwort. Das ist, was den Roman anbelangt, auch gut so. Alles andere hätte diesem fasziniere­nden wie unbehaglic­hen Buch nicht gut gestanden.

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