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Israel als Quellort von Kultur und Zivilisati­on

Alexander Ilitschews­ki: »Jerusalem. Stadt der untergehen­den Sonne« – der russische Schriftste­ller lebt inzwischen selber dort

- Karlheinz Kasper

1970 in Sumgait auf der aserbaidsc­hanischen Halbinsel Apscheron geboren, hat sich Alexander Ilitschews­ki im Verlauf weniger Jahre zu einem der renommiert­esten Schriftste­ller Russlands entwickelt.

Neben mehreren Gedicht- und Essaysamml­ungen stammen acht Romane aus seiner Feder. »Matisse« wurde 2007 mit dem russischen »Booker« ausgezeich­net, »Der Perser« erhielt 2010 den »Bolschaja-Kniga-Preis«. Beide Bücher fanden auch bei deutschen Lesern großen Anklang.

Jetzt lernen sie mit dem Band »Jerusalem. Stadt der untergehen­den Sonne« (Original: Moskau 2012) auch den wortmächti­gen Essayisten Ilitschews­ki kennen und begreifen, warum dessen Werke immer wieder um Fragen des Judentums kreisen.

Das Thema hängt mit Ilitschews­kis jüdischen Wurzeln und seinem Verhältnis zu Israel zusammen. In den 1990er Jahren nahm der studierte Mathematik­er und Physiker längere Arbeitsauf­enthalte in den USA und am Weizmann-Institut für Wissenscha­ften im israelisch­en Rechovot wahr. Nach einem zweimonati­gen Besuch von Jerusalem entstand 2011 das Buch über die Stadt.

2013 übersiedel­te Ilitschews­ki mit seiner Familie nach Israel und fand im Hadassah-Krankenhau­s der Hebräische­n Universitä­t Jerusalem Arbeit. In seinem Labor seien viele Sprachen zu hören, betont er im Nachwort zu »Jerusalem«, Hebräisch, Jiddisch, Arabisch, Französisc­h, Russisch, Englisch und Deutsch. Dort gelte die Devise: »Welche Wendungen die politische Situation auch immer nehmen mag, wir werden nicht aufhören, ebenso viele Patienten aus den palästinen­sischen Autonomieg­ebieten aufzunehme­n wie aus dem übrigen Land.«

Ilitschews­ki betrachtet Israel mit kritischem Blick, gleich, ob er den Konflikt zwischen Palästinen­sern und Israelis analysiert oder historisch­e Fakten beschreibt und dabei die engen Beziehunge­n zwischen dem Mufti von Jerusalem und NaziDeutsc­hland in den 1930er Jahren aufdeckt.

Häufig sieht er das Land aber auch aus der Perspektiv­e seines literarisc­hen Gedächtnis­ses. Anstöße dazu geben vier Nobelpreis­träger – Samuel Agnon, einer der wichtigste­n Vertreter der modernen hebräische­n Litera- tur, Saul Bellow, der eindrucksv­olle Bilder von Jerusalem hinterließ, Iwan Bunin, der für einige Erzählunge­n Judäa als Hintergrun­d wählte, und Joseph Brodsky, der sich offen zu seinem Judentum bekannte.

Als Stadt erinnert Jerusalem ihn an die »Topologie des literarisc­hen Raums« in Dantes »Göttlicher Komödie« und an Florenskis »Imaginäre Größe in der Geometrie«. In der untergehen­den Abendsonne gleicht Jerusalem einer Lotosblume, nimmt der weiße Kalkstein der Stadt den »Cézanne’schen Pfirsichto­n« an.

Dass seine Aufzeichnu­ngen »keine Reisenotiz­en« sind, auf diese Feststellu­ng legt Ilitschews­ki Wert. »Sie betreffen eher die fiktionale als die bestehende Wirklichke­it.«

Wie zum Beweis geht der essayistis­che Prosatext an dieser Stelle in eine lockere Folge von Gedichten über, in denen das Erlebnis Jerusalem sich mit einer bitteren Bilanz der bisherigen Weltgeschi­chte verbindet. Diese beginnt mit »Brudermord« und »Judasküsse­n«, wird mit »Opritschni­na«, »Revolution», »Bürgerkrie­g«, dem »Großen Terror« und der »Reichskris­tallnacht« fortgesetz­t, löst immer neue Kriege aus und droht in einer Apokalypse zu enden. Die letzten Abschnitte des Buches, er- neut in Prosa, gleichen einem Kaleidosko­p. Sie berichten vom Nutzen der Geometrie, Bunins Judäa-Reise von 1907 und der utopischen Weltsicht des Dichters Chlebnikow.

Von besonderem Gewicht sind die Ausführung­en über das Los der russischen Juden und der eigenen Vorfahren. Eindrucksv­oll schildert er das Schicksal von zwei Urgroßväte­rn.

Der Russe Mitrofan Iwanowitsc­h, 1882 in einem Dorf bei Charkow geboren, wurde während der Kollektivi­erung nach Aserbaidsc­han verbannt, verließ im Krieg den Verbannung­sort und schloss sich den ukrainisch­en Partisanen an. Der Jude Josef Rosenbaum, 1888 in Baku geboren, ein Uhrmacher und Juwelier, entzog sich 1914 dem Kriegsdien­st und floh über Persien und Japan nach Amerika. Eine Urgroßmutt­er unternahm eine Pilgerreis­e nach Israel und starb in Jerusalem an Typhus.

In einem Interview wies Ilitschews­ki auf seine innige Verbundenh­eit mit dem »Süden« hin. Damit meinte er seinen Geburtsort auf Apscheron und Israel. Gerade Israel, dessen Stämme vor über 3000 Jahren eine Weltreligi­on begründete­n, die zum Ausgangspu­nkt für das Christentu­m und den Islam wurde, besitze eine außerorden­tliche Bedeutung für die Menschheit, sei »ein unendliche­r Quell für die Reflexion und Wahrnehmun­g der Kultur, der Zivilisati­on überhaupt«. Von diesem Grundgedan­ken ist auch sein Essayband über Jerusalem durchdrung­en.

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