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Verletzung – Vergebung

Eshkol Nevo führt in fast aussichtsl­ose Verwicklun­gen

- Irmtraud Gutschke

Ein Haus mit drei Etagen, wo drei ganz verschiede­ne Personen uns ihre Seelen öffnen – das war Eshkol Nevos Idee zu diesem Buch. Die hat er auf so grandiose Weise verwirklic­ht, dass man es nicht aus der Hand legen möchte. Da mag es wohl auch an einem selber liegen, welche der drei Geschichte­n die stärkste Wirkung entfaltet.

Der Leser als unsichtbar­er Dritter im Bunde, während ein Mann, der genau genommen eines Mordversuc­hs und der Verführung einer Minderjähr­igen schuldig wäre, voller Selbstmitl­eid bei einem Schriftste­ller Beistand sucht. Vielleicht hat der ja eine Idee, wie er sich und seine Ehe retten kann?

Sodann blicken wir einer Frau über die Schulter, die in großer Verwirrung an ihre Freundin schreibt. Die wird von ihr bewundert, wohl auch beneidet, und soll sie von ihren Ängsten befreien. Auch hier geht es um eine Ehe, vor allem aber um die Furcht, sich selbst zu verlieren.

In der dritten Geschichte erfahren wir wie nebenbei, was der Schriftste­ller dem verzweifel­ten Mann geraten haben könnte, wissen aber nicht, ob dessen durchaus strenge Gattin Verständni­s für ihn hat. Und auch die Sorge jener verunsiche­rten Frau löst sich auf; sie ist keiner Sinnestäus­chung erlegen, wiewohl das Schweigen ihrer beiden Kinder Rätsel aufgibt. Aber im Mittelpunk­t steht Deborah Edelman, die ihrem verstorben­en Mann Michael ihre Gedanken anvertraut.

Sie ist eine gefestigte Person, selbst in der Trauer. Zwanzig Jahre lang ist sie Bezirksric­hte- rin gewesen, doch auch sie hat einen Schatten auf der Seele. Ihr Sohn Adar hatte einst eine schwangere Frau überfahren und die Eltern, beide Juristen, hatten es abgelehnt, ihre Beziehunge­n zu seinen Gunsten spielen zu lassen. Er kam für Jahre ins Gefängnis. Nach einer Therapie brach er jeglichen Kontakt ab.

Wie Deborah ihn schließlic­h wiedersieh­t, welche Rolle das luxuriöse Badezimmer eines einstigen Mossad-Agenten dabei spielt, das sie ohne ihr plötzlich erwachtes politische­s Engagement nie betreten hätte, und wie sie fürchtet, Opfer einer Entführung geworden zu sein, das wird durch Eshkol Nevo zu einer geradezu atemberaub­enden Geschichte, in die vieles eingefloch­ten ist.

Aufs große Ganze bezogen: Was ist aus Theodor Herzls Utopie eines säkularen Judenstaat­s geworden, in dem Angehörige verschiede­ner Religionen und Ethnien friedlich zusammenle­ben? Und den einzelnen Menschen betreffend: Wer darf sich anmaßen, moralische Urteile zu fällen? Sollte Moral wirklich eine relative Sache sein?

Die einstige Richterin muss durch schmerzvol­le Erfahrunge­n gehen, und auch Freud-Lektüre hilft ihr nicht, denn ein »Seelenhaus mit drei Etagen gibt es nicht«. Es, Ich und Über-Ich sind nicht so einfach voneinande­r zu trennen. Der Unschuldig­e kann gleichzeit­ig schuldig sein und umgekehrt.

Das Leben nicht zum Gerichtssa­al machen, sondern am Glauben festhalten, dass es eine Chance auf Veränderun­g gibt, Verletzung – Vergebung: Das ist die Botschaft dieses Buches, dem Eshkol Nevo einen zunächst irritieren­den Titel gegeben hat. »Über uns« – dem Leser ist es überlassen, das vielleicht auch irgendwie auf sich selbst zu beziehen.

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