Im wilden Strudel von Geschichte und Gegenwart
Der israelische Bestsellerautor Assaf Gavron erzählt weiter von Eitan Enoch, genannt »das Krokodil«
Die Luft ist raus. Das Krokodil ist träge geworden. Warum? Ist der israelische Bestsellerautor Assaf Gavron bei der Fortsetzung der Geschichte des Eitan Enoch, genannt »das Krokodil«, heute weniger inspiriert als im Vorgängerroman »Ein schönes Attentat«? Ist es das literarische Déjà vu, das Gefühl, die Geschichte der mordenden und sterbenden, pfiffigen und durchtriebenen Greise und ihrer Enkel als Träger einer mehr oder weniger humorigen Handlung anderswo schon gelesen zu haben (etwa in »Der Hundertjährige ...«)? Oder ist es die eher bodenständige Übersetzung ins Deutsche?
Vielleicht zeigt sich im Stil tatsächlich die Müdigkeit des Helden – Eitan Enoch hat zehn Jahre zuvor als dynamischer, urbaner Israeli Schlagzeilen gemacht, weil er innerhalb von einer Woche drei Terroranschläge überlebte. Jetzt ist er 44 und als Vater einer sechsjährigen Tochter namens Noga seit ein paar Monaten geschieden. Abgesehen von gelegentlichen Affären mit der eigenen Ex und dem Flirt mit der verheirateten Mutter einer Schulfreundin Nogas, gibt es keine Frauen in seinem Leben. Als Taxifahrer fristet er sein Dasein in Tel Aviv und verbringt zwei leidenschaftliche Abende pro Woche in einem russischen Boxclub.
Gelegentlich wird er von Fahrgästen erkannt. Doch der alte Ruhm ist ihm eher peinlich. Lieber möchte er bei seinen Kunden mit dem Wissen über die Herkunft der Straßennamen punkten. So plätschert sein Leben dahin – Arbeit, regelmäßig Sport, wöchentliche Besuche der Tochter und mehr schon nicht. Eine neue Liebe verbietet sich »das Krokodil«, wirkliche Interessen scheint er nicht zu haben.
Das alles ändert sich, als die 85-jährige Lotta Perl in sein Taxi steigt. Zum Friedhof möchte sie, einen alten Freund beerdigen. Jedenfalls ist das ihre Legende. In Wahrheit sind die Dinge komplizierter. Eddy O’Leary war, so stellt sich heraus, weit mehr als ein Freund für die alte Dame. Die Beerdigung ist nur der Beginn einer Geschichte, deren tatsächliche Anfänge in die Zeit des britischen Mandats in Palästina zurückreichen. Eine Geschichte voller Geheimnisse, Intrigen und Verwicklungen: Menschen kämpfen, verschwinden, werden ermordet oder bringen sich um.
Verdächtig machen sich viele. Allerdings ermittelt nicht die Polizei: Assaf Gavron legt jede Menge Fährten, denen »das Krokodil« – auf Bitten von Lotta Perl – und sein alter Kumpel Bar als Amateurdetektive folgen.
Zahlreiche Haupt- und Nebenfiguren tauchen auf und verschwinden, wie in einem absurden Drama: Lucy, die philippinische Pflegerin, Morris, der Taxibesitzer, Emil, der Boxtrainer. Sie zerfasern die Handlung, die hier, um Krimispannung zu erhalten, nicht en détail referiert werden soll, und produzieren gerade dadurch eine paradoxe Realitätsnähe.
Assaf Gavrons Roman ist auch eine Parabel auf ein Land, das von der eigenen Geschichte und Gegenwart immer wieder in wilde Strudel gerissen wird. Ein Land, das in seiner Vielfalt enorme Brüche aufweist. In dem sich zwischen Schawarma-Buden – Eitan Enoch liebt Schawarma! – und feinen Hotels oder Altersheimen, zwischen Tel Aviv, Jerusalem und Herzliya auf kleinem Raum große Dramen abspielen können, die den Lauf der Geschichte ändern – oder auch nicht.
Assaf Gavron: Achtzehn Hiebe. Roman. A. d. Hebr. v. Barbara Linner. Luchterhand Verlag, 415 S., geb., 22 €.