Junger Mann zwischen den Fronten
Aka Morchiladze lässt am Chaos der Wendezeit auf dem Kaukasus teilhaben
»Ich kann nichts essen. Ich übergebe mich die ganze Zeit. Ich hatte seit neun Tagen keinen Stuhlgang, meine Nieren tun mir weh, die Füße sind geschwollen, die Zunge klebt mir am Gaumen.« Neun Tage lang war Gio, Sohn des in Tbilissi angesehenen Milizionärs Tengiz Mikatadze, auf einem Roadtrip verschollen, der ganz anders geplant war.
Tbilissi 1992: Die Regierung von Swiad Gamsachurdia ist zerbrochen, der Präsident außer Landes geflohen. Es herrscht Anarchie, paramilitärische Einheiten der Sakartwelos Mchedrioni (Georgische Reiter) patrouillieren durch Tiflis.
Gio lebt gut von dem Geld, das sein Vater, ein Milizionär, für ihn bereitstellt. Mit dem eigenen alten Lada fährt er seine Freunde umher. Sein ausgeflippter Freund Goglik überredet ihn, nach Aserbaidschan zu fahren, um günstig Drogen einzukaufen und nach Georgien zu schmuggeln. Der Plan ist eigentlich, noch am selben Abend zurück zu sein. Die Verhältnisse in der Region sind jedoch verworren, Bürgerkrieg und Chaos erschweren und erleichtern zugleich ihr Abenteuer. Die beiden Freunde überqueren zahlreiche, auch semi-offizielle, Grenzen, treffen Mittelsmänner und sind auf der Suche nach dem richtigen Weg durchs dunkle Niemandsland. Als sie völlig die Orientierung verloren haben, wird plötzlich auf sie geschossen, und die beiden geraten in Gefangenschaft.
»Reise nach Karabach« ist der meistgelesene georgische Roman der letzten Jahrzehnte und wurde auch verfilmt. Das Original wurde bereits 1992 veröffentlicht. Dass das Buch jetzt ins Deutsche übersetzt wird, dürfte damit zusammenhängen, dass Georgien Gastland der Frankfurter Buchmesse im Oktober sein wird.
Parallel zu diesem Roman gibt es übrigens im Mitteldeutschen Verlag zwei weitere Titel von Aka Morchiladze (hier allerdings Morchiladse transkribiert): den Roman »Santa Esperanza« und ein Sachbuch, das historische Hintergründe erklärt. »Schatten auf dem Weg« reflektiert die Geschichte Tbilissis von der Stalin-Ära bis in die 1990er Jahre. Mit dem Zerfall der Sowjetunion gewannen nationalistische Strömungen schnell die Oberhand. Georgien hatte sich am 9. April 1991 unabhängig erklärt. Gleichzeitig zerfiel das eigene Staatsgebiet. Abchasien und Südossetien strebten die Unabhängigkeit von Georgien an, was zu militärischen Konflikten führte. Die Region Bergkarabach, die dem Roman den Titel gibt, bildet zwischen Armenien und Aserbaidschan einen weiteren Konfliktherd im Kaukasus.
Lesend wird man hineingezogen in verworrene Verhältnisse. Dabei ist der Roman gleich mehrfach eine Liebesgeschichte. Es geht um die Liebe zu den Eltern, die Liebe zum besten Freund und die tragi- sche Liebe zu Jana, mit der Gio nicht sein kann, weil sein Vater sie nicht für angemessen hält. Ein Jahr ist Jana bereits aus Gios Leben verschwunden, noch immer treibt es ihn um, dass in Tbilissi die Ehre der Familie mehr zählt als ein Menschenglück: »Die Regeln haben anscheinend Priorität.« Auch Gio ist lange darin gefangen, das wird im Laufe der Lektüre klar.
Aka Morchiladze, geboren 1966, ist Historiker und Journalist. Fünfmal wurde er mit dem georgischen Literaturpreis Saba ausgezeichnet. Dem Autor gelingt es, die Tristesse der Gewalt einzufangen. Er entlarvt das Versprechen, dass Krieg ein Abenteuer sei. Endlos werde über Politik geredet, beschwert sich Gio, die Milizionäre hatten diesbezüglich ganze Theoriegebäude. »Sie waren gänzlich durchtränkt von Politik ... die Politik kann die Menschen verrückt machen ...«
Gio trifft Kommandanten, die von Erschießungen so ruhig sprechen, als würden sie aus einem Telefonbuch vorlesen, und Milchbubis, die durch den Krieg an Maschinengewehre geraten sind. Die Milizen, oftmals zwei Uniformierte und ein paar Bauern, aufgerüstet mit Pistolen, Gewehren und schrottreifen Militärwagen, machen ihr Ding, was vor allem aus Entführun- gen und Lösegelderpressungen besteht. »Wenn hier überhaupt eine Ordnung herrschte, dann war sie trügerisch; denn die meisten schliefen die ganze Zeit, und wer nicht schlief, kiffte«, meint Gio. Das erste Mal seit dem Verlust von Jana ist er gezwungen, selbst Entscheidungen zu treffen und einen Plan zu schmieden.
Und so erzählt er einer russischen Reporterin von der »freien« Presse Lügen, um sie für seine Flucht zu benutzen. Im Krieg, das zeigt »Reise nach Karabach«, wird Wahrheit zum Opfer gebracht.
Dabei ist das Buch keine plumpe Kriegskritik; es macht erlebbar, wie im Chaos eine eigene Realität entsteht. Nach der Kriegslogik folgt eine Gräueltat auf die andere. Armenier hätten Kinder getötet, also tötete man auf beiden Seiten die jeweiligen Nachkommen. Dass am Ende nicht ganz klar ist, wer Gewinner und wer Verlierer ist in so einem Scheißkrieg, dieser Schlussfolgerung Gios kann man nur beipflichten.
Ein rasantes Abenteuer für die Leserin, den Leser – für Gio ist es mit einer geistigen Befreiung verbunden. Er muss erkennen, dass Trinksprüche genauso wenig Probleme lösen und Menschen zusammenbringen wie die Hörigkeit gegenüber seinem Vater und die Anpassung an die Forderung seiner Kumpels. Im Chaos der Wendezeit hat ein junger Mann zu sich selbst gefunden