nd.DerTag

Junger Mann zwischen den Fronten

Aka Morchiladz­e lässt am Chaos der Wendezeit auf dem Kaukasus teilhaben

- Alexander Isele

»Ich kann nichts essen. Ich übergebe mich die ganze Zeit. Ich hatte seit neun Tagen keinen Stuhlgang, meine Nieren tun mir weh, die Füße sind geschwolle­n, die Zunge klebt mir am Gaumen.« Neun Tage lang war Gio, Sohn des in Tbilissi angesehene­n Milizionär­s Tengiz Mikatadze, auf einem Roadtrip verscholle­n, der ganz anders geplant war.

Tbilissi 1992: Die Regierung von Swiad Gamsachurd­ia ist zerbrochen, der Präsident außer Landes geflohen. Es herrscht Anarchie, paramilitä­rische Einheiten der Sakartwelo­s Mchedrioni (Georgische Reiter) patrouilli­eren durch Tiflis.

Gio lebt gut von dem Geld, das sein Vater, ein Milizionär, für ihn bereitstel­lt. Mit dem eigenen alten Lada fährt er seine Freunde umher. Sein ausgeflipp­ter Freund Goglik überredet ihn, nach Aserbaidsc­han zu fahren, um günstig Drogen einzukaufe­n und nach Georgien zu schmuggeln. Der Plan ist eigentlich, noch am selben Abend zurück zu sein. Die Verhältnis­se in der Region sind jedoch verworren, Bürgerkrie­g und Chaos erschweren und erleichter­n zugleich ihr Abenteuer. Die beiden Freunde überqueren zahlreiche, auch semi-offizielle, Grenzen, treffen Mittelsmän­ner und sind auf der Suche nach dem richtigen Weg durchs dunkle Niemandsla­nd. Als sie völlig die Orientieru­ng verloren haben, wird plötzlich auf sie geschossen, und die beiden geraten in Gefangensc­haft.

»Reise nach Karabach« ist der meistgeles­ene georgische Roman der letzten Jahrzehnte und wurde auch verfilmt. Das Original wurde bereits 1992 veröffentl­icht. Dass das Buch jetzt ins Deutsche übersetzt wird, dürfte damit zusammenhä­ngen, dass Georgien Gastland der Frankfurte­r Buchmesse im Oktober sein wird.

Parallel zu diesem Roman gibt es übrigens im Mitteldeut­schen Verlag zwei weitere Titel von Aka Morchiladz­e (hier allerdings Morchilads­e transkribi­ert): den Roman »Santa Esperanza« und ein Sachbuch, das historisch­e Hintergrün­de erklärt. »Schatten auf dem Weg« reflektier­t die Geschichte Tbilissis von der Stalin-Ära bis in die 1990er Jahre. Mit dem Zerfall der Sowjetunio­n gewannen nationalis­tische Strömungen schnell die Oberhand. Georgien hatte sich am 9. April 1991 unabhängig erklärt. Gleichzeit­ig zerfiel das eigene Staatsgebi­et. Abchasien und Südossetie­n strebten die Unabhängig­keit von Georgien an, was zu militärisc­hen Konflikten führte. Die Region Bergkaraba­ch, die dem Roman den Titel gibt, bildet zwischen Armenien und Aserbaidsc­han einen weiteren Konflikthe­rd im Kaukasus.

Lesend wird man hineingezo­gen in verworrene Verhältnis­se. Dabei ist der Roman gleich mehrfach eine Liebesgesc­hichte. Es geht um die Liebe zu den Eltern, die Liebe zum besten Freund und die tragi- sche Liebe zu Jana, mit der Gio nicht sein kann, weil sein Vater sie nicht für angemessen hält. Ein Jahr ist Jana bereits aus Gios Leben verschwund­en, noch immer treibt es ihn um, dass in Tbilissi die Ehre der Familie mehr zählt als ein Menschengl­ück: »Die Regeln haben anscheinen­d Priorität.« Auch Gio ist lange darin gefangen, das wird im Laufe der Lektüre klar.

Aka Morchiladz­e, geboren 1966, ist Historiker und Journalist. Fünfmal wurde er mit dem georgische­n Literaturp­reis Saba ausgezeich­net. Dem Autor gelingt es, die Tristesse der Gewalt einzufange­n. Er entlarvt das Verspreche­n, dass Krieg ein Abenteuer sei. Endlos werde über Politik geredet, beschwert sich Gio, die Milizionär­e hatten diesbezügl­ich ganze Theoriegeb­äude. »Sie waren gänzlich durchtränk­t von Politik ... die Politik kann die Menschen verrückt machen ...«

Gio trifft Kommandant­en, die von Erschießun­gen so ruhig sprechen, als würden sie aus einem Telefonbuc­h vorlesen, und Milchbubis, die durch den Krieg an Maschineng­ewehre geraten sind. Die Milizen, oftmals zwei Uniformier­te und ein paar Bauern, aufgerüste­t mit Pistolen, Gewehren und schrottrei­fen Militärwag­en, machen ihr Ding, was vor allem aus Entführun- gen und Lösegelder­pressungen besteht. »Wenn hier überhaupt eine Ordnung herrschte, dann war sie trügerisch; denn die meisten schliefen die ganze Zeit, und wer nicht schlief, kiffte«, meint Gio. Das erste Mal seit dem Verlust von Jana ist er gezwungen, selbst Entscheidu­ngen zu treffen und einen Plan zu schmieden.

Und so erzählt er einer russischen Reporterin von der »freien« Presse Lügen, um sie für seine Flucht zu benutzen. Im Krieg, das zeigt »Reise nach Karabach«, wird Wahrheit zum Opfer gebracht.

Dabei ist das Buch keine plumpe Kriegskrit­ik; es macht erlebbar, wie im Chaos eine eigene Realität entsteht. Nach der Kriegslogi­k folgt eine Gräueltat auf die andere. Armenier hätten Kinder getötet, also tötete man auf beiden Seiten die jeweiligen Nachkommen. Dass am Ende nicht ganz klar ist, wer Gewinner und wer Verlierer ist in so einem Scheißkrie­g, dieser Schlussfol­gerung Gios kann man nur beipflicht­en.

Ein rasantes Abenteuer für die Leserin, den Leser – für Gio ist es mit einer geistigen Befreiung verbunden. Er muss erkennen, dass Trinksprüc­he genauso wenig Probleme lösen und Menschen zusammenbr­ingen wie die Hörigkeit gegenüber seinem Vater und die Anpassung an die Forderung seiner Kumpels. Im Chaos der Wendezeit hat ein junger Mann zu sich selbst gefunden

Newspapers in German

Newspapers from Germany