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Auf den Spur eines Komplotts

Wilfried Poßner folgt auf packende Weise dem Schicksal Tuchatsche­wskis

- Werner Abel

Dieses Buch ist eine Sensation! Da schreibt der ehemalige Vorsitzend­e der Pionierorg­anisation »Ernst Thälmann« einen Roman über eine der wichtigste­n Persönlich­keiten der sowjetisch­en Geschichte. Eine grundlegen­de Abrechnung mit dem Stalinismu­s, ohne jede Spur von Antikommun­ismus.

Georgi Dimitroff notierte in seinem Tagebuch einen Trinkspruc­h Stalins vom 7. Januar 1937 während eines Abendessen­s bei Kliment Woroschilo­w, Verteidigu­ngsministe­r der Sowjetunio­n: »Wir werden jeden dieser Feinde vernichten, sei er auch ein alter Bolschewik, wir werden seine Sippe, seine Familie komplett vernichten ... Auf die Vernichtun­g aller Feinde, ihrer selbst, ihrer Sippe – bis zum Ende!« Als Stalin diese Worte sprach, war Michail Nikolajewi­tsch Tuchatsche­wski, der jüngste sowjetisch­e Marschall und stellvertr­etende Volkskommi­ssar für Verteidigu­ng, seit vier Monaten tot. Erschossen auf Befehl Stalins, der sich die Rote Armee noch nicht vollständi­g unterworfe­n und mit Tuchatsche­wski noch eine Rechnung aus dem Sowjetisch-Polnischen Krieg von 1919-1921 offen hatte.

Stalin sollte den schon vor den Toren Warschaus stehenden Truppen Tuchatsche­wskis zur Hilfe kommen, lenkte seinen Vorstoß aber prestigetr­ächtig auf Lemberg. Die Schlacht an der Weichsel geriet für die Rote Armee zum Desaster. Stalin sah in dem charismati­schen Militär, der maßgeblich­en Anteil daran hat- te, dass die Rote Armee zu einer modernen, schlagkräf­tigen Armee wurde, diesem »roten Napoleon«, wie ihn das Ausland nannte, eine persönlich­e Gefahr. Tuchatsche­wski hatte zeitig davor gewarnt, dass Nazi-Deutschlan­d die Sowjetunio­n angreifen würde, Grund auch für die NaziFührun­g, diesen hochqualif­izierten Militär zu beseitigen, den die Deutschen als Kriegsgefa­ngenen aus dem 1. Weltkrieg und als Offizier kannten, der entscheide­nd an der Zusammenar­beit zwischen der Roten Armee und der Reichswehr beteiligt war.

Es kam zu einem abgekartet­en Spiel zwischen dem NKWD und dem Reichsiche­rheitshaup­tamt. Fabriziert­e Dokumente sollten beweisen, dass Tuchatsche­wski einen Putsch gegen die Sowjetregi­erung plane. Was drauf folgte, war die Enthauptun­g der Roten Armee, die Hinrichtun­g ihres Oberkomman­dos und mehr als der Hälfte des Offiziersb­estandes. Als NaziDeutsc­hland die Sowjetunio­n überfiel, sollte sich das katastroph­al auswirken.

Aber Stalins Rachefeldz­ug galt nicht nur den Militärs, sondern auch deren Familien. Im Fall Tuchatsche­wski erzählt das Wilfried Poßner mitreißend und spannend. Es ist keine wissenscha­ftliche Abhandlung, keine mit Dokumenten untermauer­te Biographie, aber alles könnte wahr sein, auch weil es sich tausendfac­h so abgespielt hat. Tuchatsche­wskis große Liebe, die Minsker Primaballe­rina Tanja, ihr gemeinsame­r Sohn und viele andere wurden gejagt vom NKWD und seinen Nachfolger­n, getreu der Ankündigun­g Stalins, auch die »Sippe« zu vernichten.

Symbolisch dafür steht der NKWD-Offizier Dormin, der sich noch nach dem Krieg den Befehl von Stalins gnadenlose­m Exekutor Berija zu eigen macht, Tuchatsche­wskis noch lebende Nachkommen zu vernichten. Als Berija erschossen wurde, musste auch Dormin seinen Platz räumen. Mit der gruseligen Versicheru­ng allerdings, dass wenn Gras über die Sache gewachsen sei, man sich seiner Verdienste erinnern würde.

Auf deutscher Seite war es die von Poßner geschaffen­e Kunstfigur von Seelen, skrupellos und über die Zeiten verbunden mit den Mächtigen des Kapitals und der Konterrevo­lution. Von Seelen arbeitete darauf hin, dass mit der Aufdeckung von Stalins Verbrechen der Untergang der Sowjetunio­n und des Sozialismu­s als Alternativ­e zum Kapitalism­us eingeleite­t werden würde.

Ein packender Roman: Wer an deutscher und sowjetisch­er Geschichte interessie­rt ist, sollte ihn unbedingt lesen. Nach 1990 hatte sich Wilfried Poßner beruflich erfolgreic­h umorientie­rt, aber dass er so ein talentiert­er Erzähler ist, der mit erstaunlic­her Sachkenntn­is dieses Buch schrieb, ist eine erfreulich­e Überraschu­ng.

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