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Verlorenes Paradies

Nicole Krauss erzählt von einer metaphysis­chen Sinnsuche

- Mirco Drewes

Mit ihrem zweiten Roman »Die Geschichte der Liebe« wurde Nicole Krauss zum internatio­nalen Star der Literaturs­zene. Die Erzählunge­n der New Yorkerin, Enkelin vor dem Holocaust geflohener Juden, Jahrgang 1974, tragen häufig autobiogra­fische Züge, so auch im Falle ihres neuen Werkes: »Waldes Dunkel« erzählt die Geschichte einer Sinnsuche, einer Selbstverg­ewisserung in Zeiten einer persönlich­en Krise. Eine ebensolche liegt hinter Krauss, deren Ehe mit dem Schriftste­ller Jonathan Safran Foer 2014 geschieden wurde.

Nun bietet sie zwei Protagonis­ten auf, die nach Scheidung und existenzie­ller Verlusterf­ahrung ihren Wurzeln im Judentum nachspüren, dabei schließlic­h in der Wüste Negev landen. Und dort Läuterung und, wenn schon keine spirituell­e Reinkarnat­ion, so doch eine persönlich­e Neuwerdung erfahren.

Jules Epstein, 68, erfolgreic­her Anwalt, Politikber­ater und streitlust­iges Alphatier, hat zunehmend Biss und Disziplin verloren. Nach dem Tod der Eltern beginnt er, sein Vermögen wohltätig zu verteilen, und entwickelt eine Faszinatio­n für die Schätze jüdischer Weisheit in den Psalmen. Um inneren Frieden zu finden, macht er sich auf ins Heilige Land. Dort gerät er an einen hartnäckig­en Rabbi, der ihm weiszumach­en sucht, er sei ein direkter Nachfahre König Davids und somit messianisc­her Herkunft. Seine Geschichte erzählt Krauss strikt auktorial.

Die Ich-Perspektiv­e gehört der zweiten Protagonis­tin, unschwer als Alter Ego der Autorin zu erkennen. Die Schriftste­llerin Nicole steckt in einer Schaffensk­rise, wobei sich ihre Gedanken und Visionen um das Hilton-Hotel in Tel Aviv drehen, an dem ihre frühesten Kindheitse­rinnerunge­n haften.

Was nach therapeuti­schem Schreiben für Fortgeschr­ittene und angestreng­tem Formexperi­ment klingt, entpuppt sich als wahres Kunststück. Krauss gelingen mühelos echte Unwahrsche­inlichkeit­en. Denn die Handlung wird noch gewagter: Nicole wird durch den geheimnisv­ollen Literaturp­rofessor Friedman in eine unglaublic­he Verschwöru­ngsgeschic­hte um Max Brod und Franz Kafka hineingezo­gen. Dessen Tod im Jahre 1924 sei nur vorgetäusc­ht gewesen. Tatsächlic­h sei der lungenkran­ke Schriftste­ller nach Palästina übergesied­elt und habe dort inkognito als Gärtner gelebt. Friedman bemüht sich, in den Besitz von nachgelass­enen Fragmenten zu kommen, die Nicole im Auftrag des jüdischen Volkes zu vollenden auserwählt sei. Und Jules Epstein landet derweil beim Dreh eines Spielfilms über König David, in des- sen Rolle er spontan gleich selbst schlüpfen darf. Angesichts derartiger Volten fragt man sich: Kann das gut gehen? Und wie!

Den realen Streit um den Nachlass Max Brods arbeitet Krauss derart geschickt in die Handlung des Romans ein, dass sich der Leser in einen Krimi um ein Rätsel der Weltlitera­tur versetzt sieht – doch geschieht dies ganz nebenbei. So wie über dem ganzen Roman eine Atmosphäre des Traumwandl­erischen, der melancholi­schen Kontemplat­ion und philosophi­schen Bereitscha­ft zur Frage liegt.

Das Resultat ist ein Klima der Uneigentli­chkeit gegenüber der Realität, den Imperative­n der Leistungsg­esellschaf­t und den Gesetzen der Wahrschein­lichkeit realistisc­hen Erzählens. Was sich zwischen diesen Buchdeckel­n abspielt, ist zwar nicht unplausibe­l, allerdings auch kaum erwartbar. Wobei es Nicole Krauss durch ihre Erzählkuns­t gelingt, dass Leser das Unerwartet­e genießen.

»Waldes Dunkel« zeigt eine Gegenwart, die aus der Vergangenh­eit lebt, eine Realität, die Einfallsto­r für eine Welt der Zeichen und Wunder sein kann, und ein Leben, das in seiner Erlösungsb­edürftigke­it wie eine Reminiszen­z an das verlorene Paradies erscheint.

Dieser Roman verdient in all seiner abgründige­n metaphysis­chen Sehnsucht, romantisch genannt zu werden. Meisterhaf­t arrangiert Nicole Krauss ihre Erzählsträ­nge, die sich spiegeln, umkreisen und ergänzen, und erschafft so eine literarisc­he Arabeske voller existenzie­ller Rätsel, kabbalisti­scher Weisheiten und literarhis­torischer Verweise. Ein stiller, betörender und sehr intelligen­ter Roman.

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