Das Ungleichgewicht der Welt
Kerana Angelova erzählt von zwei starken, sinnenfrohen Frauen in einem Roman, der wie ein Märchen ist
»Wir sind Staubkörner, die ihre wirklichen Dimensionen noch nicht kennen, die wahren Dimensionen der Liebe und des Leids … Deshalb sucht der Mann die Frau und die Frau den Mann, damit sie wieder eins werden, wie sie aus den Gussformen gekommen sind.«
Dieser Roman, dem hier zwei der vielen eindrücklichen Sätze entnommen sind, ist ein wunderbares Epos über Werden und Vergehen und die Relativität der Zeit, über Mensch und Natur, über Zerstören und Heilen und die ewige Suche nach Harmonie. Er ist wie Traum und Märchen und berichtet zugleich von historischem Geschehen an realen Orten. Der »bulgarische mMagische Realismus« Kerana Angelovas (so die Autorin im Gespräch) ist ein Sprachwunder, dem alten Wissen der Völker auf dem Balkan und »den dunklen Tiefen der feuchten Seidelbastwälder« abgelauscht. Mit diesen Worten aus dem ersten Kapitel ist die Melodie des Romans von Beginn an schon angestimmt. Dem Klang entspricht das Wissen um die »wahren Dimensionen der Liebe und des Leids«, ebenso wie »die wirklichen Dimensionen« von Gewalt, Vertreibung, Heimatverlust und Suche nach nationaler Identität.
Und so beginnt der Roman: Während des Ersten Balkankrieges zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird Elada als Säugling auf der Flucht der Menschen aus Edirne von ihrer Mutter in einem Wickeltuch im Wald zurückgelassen (»Ich blieb allein zurück, einsam und irr vor Entsetzen«). Ein alter Mann mit einem Uhu auf der Schulter geht vorüber und verschwindet im Nebel. Da kommt eine Hirschkuh und umsorgt und nährt den Säugling. Schließlich findet die junge Nomadin Chrisula das Baby, hebt es auf, drückt es an ihren duftenden Körper und nimmt es mit zu den Karakatschanen in die tiefen Wälder, in eine Gemeinschaft von Schafhirten der Berge. Chrisula gibt dem Mädchen den Namen Despina oder Pinjo, wird ihm Mutter und große Schwester.
Unter den Hirten wächst Pinjo auf, und sie wird dem hübschen, immer nach Blumen und Kräutern duftenden »Flattervogel« Chrisula ähnlich. So vergehen ein paar Jahre. Aber eines Tages müssen beide die Sippe verlassen, das verlangt ihr ungeschriebenes Gesetz. Pinjo hat sich verplappert und den anderen die Liebe Chrisulas zu ihrem Schwager Jorgos verraten. Chrisula und Pinjo wandern in die große Stadt auf den vier Hügeln Edirne. Dort finden sie eine Unterkunft bei dem armenischen Glasbläser Ovanes und seiner wasserköpfigen Tochter Sirui.
An dieser Stelle sollte gesagt werden, dass Kerana Angelova diesen beiden Menschen ganz besondere Eigenschaften und Fähigkeiten schenkt – dem zerbrechlichen Mädchen Sirui mit dem »gläsernen Kopf« Klugheit und Hellsicht und ihrem Vater Ovanes die Fertigkeit, ein Teleskop zu bauen, mit dem er Gott hoch oben am Himmel suchen will. Ovanes’ gastfreundliches Haus beherbergt die beiden Nomadinnen, bis … Ja, irgendwann ist eben wieder die Liebe, die Suche nach der anderen »Gussform«, nach dem vorbestimmten Anderen im Spiel. Und so müssen sie weiterwandern.
Dann beginnt und endet erneut ein Krieg, und just an dem Tag, als er endet, hört Pinjo die Stimme ihrer leiblichen Mutter, und die Worte ihrer Muttersprache »kehren in ihren Hals zurück«: Erlenblatt, Milch, Brot, Rose, Wasser, Himmel, Mut- ter … Sie folgt ihrer Familie nach Burgas am Schwarzen Meer. Kürzen wir hier ab: Am Ende findet Elada in dem stummen Pantomimen David ihre erste Liebe.
Im Roman gibt es keine Einzelwesen, es sind mindestens immer zwei, die zusammengehören und sich suchen, eigentlich aber eine ganze Gemeinschaft. Vor allem erzählt der Roman die Geschichte zweier starker und sinnenfreudiger Frauen, Naturkinder, aus der Natur geboren und von ihr genährt, immer unterwegs, immer auf der Suche nach dem Gleichgewicht der Welt. Dieses ferne, wehmütige »Lied« aus verschiedenen bulgarischen Dialekten hat Viktoria Dimitrova Popova kongenial ins Deutsche übertragen.