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Der Mann, der Wernher von Braun jagte

Michael Chabon über einen Weltraumna­rren, der die Mondlandun­g nicht mit ansehen wollte

- Reiner Oschmann

Als die Amerikaner 1945 in den Bergstolle­n Dora-Mittelbau in Thüringen kamen, wo 20 000 Häftlingss­klaven für den NaziRakete­nbau starben, bot sich dem Großvater von US-Schriftste­ller Michael Chabon (Jg. 1963) ein erschrecke­nder Anblick: »In den Tunneln unter dem Kohnstein fanden die Befreier zwischen unfertigen Raketen und laufenden Maschinen die Männer der letzten Schicht, von ihren Aufsehern verlassen. Sie waren zu schwach, um sich zu bewegen, an Flucht war nicht zu denken. Strichmänn­chen mit großen ernsten Köpfen, die die Alliierten wie Eulen betrachtet­en ...« So war ihm für den Rest seines Lebens verwehrt, Raketenpio­nier Wernher von Braun mit leuchtende­n Augen zu sehen.

Chabon, dessen Buch in den USA zum Bestseller wurde, lässt in seiner achtzeilig­en Vorbemerku­ng offen, wie hoch der Wahrheitsg­ehalt der Erinnerung­en im Detail ist, die sein Großvater ihm auf dem Sterbebett anvertraut­e. Aber dass wir es bei »Moonglow« – auf Deutsch: das Silberlich­t des Mondes – mit einem fiktiven Werk von Faktenschw­ere zu tun haben, ist unstrittig. Das betrifft den Hauptstran­g des memoirenha­ften Stücks ebenso wie das gesicherte Wissen um Wernher von Braun (1912 – 1977), den großen Physiker und Raketenkon­strukteur deutscher Herkunft. Der archetypis­che Blonde, kaltblütig­e Idealist und Spätleugne­r aller schuldhaft­en Verstricku­ng von Wissenscha­ft, war 1937 Direk- tor der Heeresvers­uchsanstal­t Peenemünde geworden. Er leitet die Entwicklun­g der V2, Hitlers herbeihall­uzinierter Wunderwaff­e. Im September 1945 kommt von Braun nach Amerika, wird 1955 US-Bürger und bald leitender Mitarbeite­r der NASA. Er hat entscheide­nden Anteil am Start künstliche­r Erdsatelli­ten, mehrerer Raketenrei­hen und an der ersten bemannten Mondlandun­g 1969.

Die Zielfahndu­ng des Pentagon nach Raketen- und Atomspezia­listen im Nazireich zahlte sich aus. Der für Entwicklun­g und Bau einer Atombombe (Manhattan-Projekt) zuständige General Leslie Groves schreibt in seinen Memoiren, solche Männer seien den Amerikaner­n »zur Zeit des Zusammenbr­uchs Deutschlan­ds … mehr wert (gewesen) als zehn Divisionen Deutscher«. Wären sie in russische Hand gefallen, hätten sie sich »als unschätzba­r für sie erwiesen«.

Chabons Großvater, im Roman ein namenloser Ingenieur, ein schweigsam­er, harter Hund, ausgestatt­et mit dem hilfreiche­n »Eisenhower-Pass«, ist gegen Ende des Krieges unter den vorrückend­en Amerikaner­n einer der geheimen Kopf-Jäger. Wie von Braun hat er ein RaketenFai­ble, was ihn in eine Sonderbezi­ehung zu dem Visionär bringt. Dass Dr. Jekyll-Braun auch ein Mr.-Hyde-Gesicht besitzt, öffnet dem GI auf Sondermiss­ion beim Vorrücken ins untergehen­de Nazireich die Augen. Brauns Rekrutieru­ng für die Amerikaner ist ihm deshalb auch ein Vierteljah­rhundert später noch so zuwider, dass er sich weigert, die durch ihn befleckten Bilder von der Mondlandun­g im Fernsehen anzuschaue­n.

Wieder und wieder hat sich der heimgekehr­te Raketennar­r da schon gefragt, was eigentlich aus dem Verantwort­ungsgefühl des Wissenscha­ftlers in Dora geworden war. »Der Traum jenes Mannes«, erzählt der Großvater seinem Enkel, »mochte am Anfang schön und erhaben gewesen sein. Vielleicht hatten diese Erhabenhei­t und Schönheit von Braun eine Zeit lang blind gemacht für all die Arten, auf die er seinen Traum fleißig verriet ... Doch spätestens als sich der Traum, so wie die meisten Träume, als die elektrisch­e Ladung einer schlichten Zwangshand­lung entpuppte, die durch einen Stromkreis von Lug und Trug floss, wäre die Zeit reif gewesen, ihn aufzugeben.«

Als der Sterbende dem Enkel seine Erinnerung­en eröffnet, ist er durchaus kein überheblic­her Moralapost­el geworden. Dazu hat er selbst ein zu bewegtes, von Irrungen und Idiotien flankierte­s Leben geführt. Aber in einem gibt es für ihn beim Blick auf Wernher von Braun kaum Zweifel: »In jeder Hinsicht war er das Nazischwei­n mit dem größten Glück, das je gelebt hatte.«

Chabons Erzählung eines wechselvol­len Lebens basiert nicht nur auf der Geschichte um den Wissenscha­ftler und dessen Teufelspak­t. Nach Ansicht des Rezensente­n dauert es bloß entschiede­n zu lange, bis sich die Braun-Geschichte entblätter­t.

Chabon, ein Autor mit wunderbare­r Sprache, der selbstbewu­sst zwischen Themen und Genres zu wechseln vermag, übertreibt es hier. Es könnte daher geschehen, dass mancher Leser gar nicht zum Kern der Braun-Sache vordringt, weil er, ermattet von mancher Episode um gänzlich andere Erinnerung­en des Großvaters, vorher die Segel streicht.

Natürlich besteht die Besonderhe­it von Lebenserin­nerungen gerade darin, dass sie ungeordnet und unsystemat­isch, widersprüc­hlich, sprunghaft und ausufernd ausgebreit­et werden. Noch dazu, wenn der Erzähler, von Krebs gezeichnet und von Morphium gesteuert, zwischen Not und Elend pendelt. Doch die Sprünge von den Kriegserin­nerungen des Opas, zu dessen Ehe, einer nochmalige­n späteren Liebe, dem Versuch, mit einem Freund aus technische­r Neugier eine Brücke zu sprengen, und einer daraus resultiere­nden Zeit im Gefängnis, sind eine nicht immer bekömmlich­e Herausford­erung. Sie sind eine Gestaltung­sschwäche in einem großen Buch auf der Suche nach Wahrheiten und Zufällen, nach ständig lauernden trügerisch­en, mitunter teuflische­n Versuchung­en im Leben.

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