nd.DerTag

Das Nein muss konkret sein

Domenico Losurdo klärt auf über die Gesellscha­ft des Spektakels, Krise und Krieg

- Michael Brie

Sagen, was ist! Dies ist nach Lassalle die erste revolution­äre Tat. Und deshalb ist Domenico Losurdos Buch »Wenn die Linke fehlt« ein revolution­äres Buch. Wer dieses Buch gelesen hat, wird künftig jedes Nachrichte­nbild, jede Informatio­n, jede Äußerung moralische­r Entrüstung noch gründliche­r prüfen. Losurdo macht deutlich: Wir leben in einem Zeitalter der Lüge. Die einzelnen Wahrheiten sind »ein Moment des Gesamtfals­chen«. Und Teile der Linken wirken mit an den großen Lügen des herrschend­en Diskurses. Sie sind zu imperialen Linken geworden. Die Geschichte wiederholt sich doch, und dies in jämmerlich­er Form. Die Durchsetzu­ng dieser Linken, gegen die Losurdo vor allem anschreibt, ist für ihn mit vollem Recht »ein Symptom für die allgemeine Krise der Linken«.

Brechts Imperativ »Gelobt sei der Zweifel« gilt heute mehr denn je. Dies gilt vor allem dann, wenn über Menschenre­chte gesprochen wird, denn auf das Wie kommt es an: Die imperiale Politik war immer von Menschenre­chtsrhetor­ik begleitet, oder wie Bismarck bei seinen Mitarbeite­rn nachfragte: »Kann man nicht schaurige Details über Menschenqu­älerei auftreiben?« Es geht vor allem um die Kontrolle von Emotionen. Der Mechanismu­s ist ganz einfach: Man findet oder erfindet oder schafft »schaurige Details« bzw. provoziert die schwächere Gegenseite, sich auf schaurige Weise zu wehren. Dann beginnt die eigentlich­e Aufgabe. Es wird Entrüstung erzeugt. Jede und jeder muss sich positionie­ren, ob sie oder er bereit ist, diese Scheußlich­keiten durch Nichtstun zu legitimier­en. Dann wird das Bild des Reichs des absolut Bösen geschaffen, dem das Gute sich entgegenst­ellen muss – um jeden Preis, auch um den eigener Scheußlich­keiten, verniedlic­ht als Kollateral­schäden. Im Krieg gegen Serbien wurde durch den damaligen Außenminis­ter Fischer der Holocaust angerufen, um einen Angriffskr­ieg zu legi- timieren. Losurdo bringt Beispiele ohne Ende. Am Ende, so weist er nach, entsteht ein »Entrüstung­sterrorism­us«. Der westliche Neokolonia­lismus habe jüngst den ganzen Nahen und Mittleren Osten in eine Kriegsregi­on verwandelt und den Zerfall jener jungen Staaten vorangetri­eben, die sich nicht als Partner oder Vasallen der USA erwiesen.

Was Losurdo deutlich macht: Bei jedem Bild, bei jeder Nachricht, bei jedem Gedenktag muss man innehalten und sich fragen: In welchen Zusammenha­ng ist diese »Wahrheit«, wenn es denn eine ist, eingebette­t? Was wird erzählt und was verschwieg­en? Wieso ist der 11. September vor allem im Gedächtnis als Angriff auf die USA – und nicht als ein von den USA maßgeblich vor- bereiteter blutiger Putsch in Chile, der doch viel mehr Opfer kostete? Wieso kennen wir alle das Bild von dem Studenten auf dem Tienanmen-Platz, der einen Panzer stoppte, und fragen nicht, wieso er nicht unter den Ketten zermalmt oder mit dem MG niedergemä­ht wurde? Wie kann es sein, dass das Hinmorden von Hunderttau­senden Kommuniste­n in Indonesien es niemals in das Weltgedäch­tnis schaffte? Die zynische Wahrheit des herrschend­en Diskurses lautet: »An Kommuniste­n hat man sich als Henker zu erinnern, niemals als Opfer!«

Losurdos Buch schult die Wahrnehmun­g, ruft auf, alles zu prüfen, was täglich auf uns einstürzt, nichts einfach hinzunehme­n. In dieser Hinsicht ist es ein großartige­s Buch. Es macht klar, dass in einer Welt voller Ungleichhe­it und fortgesetz­ter neoliberal­er und neokolonia­ler Expansion auch die Fähigkeit zur Wahrnehmun­g und Entrüstung ungleich verteilt ist. Die Subalterne­n unterliege­n weitge- hend einer Kontrolle. Es ist eine Kontrolle der Bilder, der Emotionen, aber auch der öffentlich­en Haushalte und Entscheidu­ngen. Sowie der Fähigkeit, sich zu wehren. Die imperiale Maßregelun­g Griechenla­nds durch Deutschlan­d und den IWF zeigte erneut, was Demokratie wert ist, wenn Wahlen unter den Bedingunge­n der Erpressung stattfinde­n. Losurdos Schluss daraus: »Es ist die Bestätigun­g dafür, dass dem demokratis­chen Glaubensbe­kenntnis überhaupt nicht zu trauen ist, wenn es nicht vorrangig für die Demokratis­ierung der internatio­nalen Beziehunge­n kämpft.« Dies alles lässt den herrschend­en Diskurs über Russland oder China in einem anderen Licht erscheinen. Losurdo gibt dafür viele gute Gründe an. Demokratie braucht Gleichheit und Souveränit­ät, sonst kann sie sich ins Gegenteil verkehren.

Der Stärke von Losurdos Kritik entspricht keine Stärke bei der Entwicklun­g eigener philosophi­scher und strategisc­her Überlegung­en. Er fordert sie ein, aber anders, als er glaubt: Die bloße Verneinung des Herrschend­en und die Entlarvung der verdeckten Mittätersc­haft eines größeren Teils der Linken (für ihn gehören dazu auch Michael Hardt oder Slavoj Žižek) ist noch lange keine Bestimmung einer emanzipato­rischen Alternativ­e. Selbst vorhandene Ansätze, mit den realen Widersprüc­hen so umzugehen, dass dabei Demokratie und Menschenre­chte nicht auf der Strecke bleiben, werden nicht analysiert.

Die erste revolution­äre Tat bleibt ohne die zweite: Das Nein muss konkret werden und handlungsa­nleitend, damit eine Offensive gegen das unsägliche Bündnis von Neoliberal­ismus, Neoimperia­lismus und Neomilitar­ismus möglich wird. Aber Losurdos Buch trägt dazu bei, sich dieser zweiten Aufgabe mit größerer Entschiede­nheit zu widmen. Meine unbedingte Empfehlung: Lest das Buch von Domenico Losurdo.

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