nd.DerTag

Exkursions­tag verordnet

Diskussion um eine Untote: Wladimir Iljitsch Lenin über die nationale Frage

- Jürgen Hofmann

Der Missbrauch des Nationalis­mus hat der Linken den Zugang zum Thema Nation und nationale Frage immer wieder erschwert. Die Wunschvors­tellung, mit fortschrei­tender europäisch­er Integratio­n vor dem Hintergrun­d der Globalisie­rung würde sich das Thema von selbst erledigen, hat sich als Irrtum erwiesen. Insofern kann es durchaus Sinn machen, sich der Debatten und der Argumente zu vergewisse­rn, über die in der Geschichte der Bewegung schon einmal gestritten wurde. Nicht dass ein Streit vor über 100 Jahren heutige Fragen beantworte­t. Anregungen lassen sich jedoch aus dem Pro und Kontra allemal ableiten.

Wiljo Heinen macht Texte von W. I. Lenin aus den Jahren 1912 bis 1914 erneut zugänglich, die 1930 im Verlag der Jugendinte­rnationale erschienen. Es sind vor allem die »Kritische(n) Bemerkunge­n zur nationalen Frage« und der Aufsatz über »Das Selbstbest­immungsrec­ht der Völker«, in denen Lenin seine Überlegung­en ausbreitet. Die extensive Polemik mit Rosa Luxemburg und anderen Zeitge- nossen überwucher­t streckenwe­ise seine Kernaussag­en. Für heutige Leser birgt diese Verhaftung in der damaligen Zeit Verständni­sprobleme. Darum hat der Verlag die Anmerkunge­n von 1930 behutsam ergänzt.

Lenins Überlegung­en atmen den Geist der Erwartung an eine bevorstehe­nde proletaris­che Revolution und ihren Sieg. Schon im Kapitalism­us sei »die welthistor­ische Tendenz … zur Verwischun­g der nationalen Unterschie­de« zu beobachten. »Dem nationalen Hader« würde »die proletaris­che Demokratie« die absolute »Einheit und völlige Verschmelz­ung der Arbeiter aller Nationen« entgegense­tzen. Für das nationale Programm der proletaris­chen Bewegung hielt er dennoch den Verzicht auf Privilegie­n für einzelne Nationen und das Recht auf politische Selbstbest­immung für unerlässli­ch. Dass die- ses Erbe später in der Sowjetunio­n missachtet wurde, hat zu ihrem Zerfall beigetrage­n. Ich erinnere mich noch gut an eine Konferenz im Juni 1982 in Riga, auf der der bloße Hinweis genügte, die als »Lenin’sche« deklariert­e, praktizier­te Nationalit­ätenpoliti­k habe nicht mehr viel mit Lenins Erbe zu tun, genügte, um die Beratungen zu unterbrech­en und den internatio­nalen Gästen einen Exkursions­tag zu verordnen.

Lenins Polemik kreist immer wieder um das Selbstbest­immungsrec­ht. Die Kernaussag­en finden sich wenige Jahre später – im November 1917 – alle in der »Deklaratio­n der Rechte der Völker Russlands« wieder. Lenin entwickelt in Auseinande­rsetzung mit kulturell-ethnischen Ansätzen schon damals Überlegung­en zu den zwei Kulturen in jeder nationalen Kultur. Verabsolut­iert behinderte diese These jedoch das Verständni­s für die widersprüc­hliche Komplexitä­t nationaler Kultur. Auch sein Plädoyer für den »zentralen Großstaat« als Schritt »zur künftigen sozialisti­schen Einheit der gesamten Welt« bedarf im Lichte der historisch­en Erfahrung einer kritischen Prüfung. Entgegen seiner Annahme schloss der demokratis­che Zentralism­us im praktizier­ten Sozialismu­s die lokale Selbstverw­altung letztlich doch aus. Ungeachtet dessen steht Lenin mit seinem Ansatz, die nationale Frage als eine politische und soziale Frage zu definieren und unter diesem Blickwinke­l zu analysiere­n, fest in der Tradition marxistisc­hen Denkens. Er warnt zu Recht vor dem »Ausspielen des Buchstaben­s des Marxismus gegen den Geist des Marxismus«.

Beigefügt ist der Sammlung ein Aufsatz von J. W. Stalin über den »Leninismus und die nationale Frage« aus dem Jahre 1924. Er leitete 1930 die Publikatio­n ein. Die konzentrie­rte Zusammenfa­ssung dürfte mehr Leser gefunden haben als Lenins teils ausschweif­ende Texte.

Der Verlag plant einen Teil II, in dem Lenins Arbeiten im Kontext mit der Oktoberrev­olution und der politische­n Orientieru­ng der Kommunisti­schen Internatio­nale enthalten sind.

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