nd.DerTag

Zimtig-sanft und sinnlich

Die große Brecht-Interpreti­n Gina Pietsch hat ihre Erinnerung­en verfasst

- Karlen Vesper

Warum Brecht? »Von seiner Weltgeltun­g muss ich hier nicht reden, die kennt jeder, der nicht allzu dumm ist«, schreibt Gina Pietsch und offenbart sodann ihr Verhältnis zum großen Dichter aus Augsburg: »Mit Brecht ist es wie mit meinem Lieblingsp­arfüm: Kommt eine neue gute Sorte auf den Markt, probier ich sie aus und lande am nächsten Tag wieder bei meiner.« Nun möchten die Leser sicher wissen, wie das Lieblingsp­arfüm der großen Brecht-Interpreti­n duftet: »zimtig-sanft, aber schwer und sinnlich.« Das also ist ihr Brecht. Und: »Ich finde ihn lustig, listig, leidenscha­ftlich. Ein Genius, der keinen Sockel verträgt, ein Genius, der um Genüsse weiß und weiß, wie man sie erobert.«

Da Gina Pietsch kein Tagebuch führte, sind ihre Erinnerung­sstützen Terminkale­nder, Briefe, Kritiken und Freunde. Ihre Reise in die eigene Vergangenh­eit bescherte ihr vornehmlic­h Freude, mitunter erwachten auch Verletzung­en, die sie nicht ausschmück­t, sowie Trauer und Schmerz. »Was erzählt man, was sollte man verschweig­en um des anderen willen?« Gina Pietsch hat eine gute Balance gefunden.

In Querfurt im Harzvorlan­d geboren, verlebte sie eine behütete Kindheit, in der bereits Weichen für ihre spätere Laufbahn gestellt werden. Vater Erich-Otto Busch, Leiter des Kulturhaus­es des Chemiefase­r-Kombinats »Wilhelm Pieck« in Schwarza, und Mutter Anneliese gehören zum Ensemble eines Arbeiterth­eaters. Überschatt­et ist die Kindheit vom frühen Tod der Mutter, die nicht mehr den Weg der jüngsten Tochter vom Kinderball­ett auf die großen Bühnen der kleinen DDR und weltweit miterlebte. Auch Schwester Mara, »so schön wie meine Mama«, stirbt wie diese mit 53. Dieses zweifache Trauma hat Gina Pietsch nie verwunden.

Mara, »begabt, talentiert«, wollte Opernsänge­rin werden, musste aber auf Vaters Druck hin Chemiefase­rfacharbei­terin lernen. Die zweite Tochter wurde vom Patriarch ebenfalls nicht in ihrem Berufswuns­ch bestärkt, absolviert­e daher nach dem Fachabitur zum Lokschloss­er, auf das Gina Pietsch noch heute stolz ist, ein Pädagogiks­tudium an der Karl-Marx-Universitä­t Leipzig, nahm aber nebenher weiter Klavierstu­nden und glänzte auf der Studentenb­üh- ne, u. a. an der Seite von Christoph Hein im Stück »Bessie Smith«, einer Hommage auf die große afro-amerikanis­che JazzSänger­in. An »heiße Debatten« während des Studiums kann Gina Pietsch sich nicht erinnern, obwohl damals der »Formalismu­s«-Streit tobte. Rückblicke­nd kann sie nachempfin­den, wie sich Brecht fühlte, dass ausgerechn­et seine »Mutter Courage« als »volksfremd­e Dekadenz« diskrediti­ert wurde. Und Gerhard Eisler ging »an den unglaublic­hen Kritiken« an seinem Libretto zur Oper »Doktor Faustus« fast kaputt, schreibt Gina Pietsch. Später liest man bei ihr noch vom unglaublic­hen Verbot eines Liedes »Vom Brot«, nur weil dieses das Verfüttern des subvention­ierten Grundnahru­ngsmittels an Schweine problemati­sierte.

Das ostdeutsch­e ’68er Jahr erlebte sie als Protest gegen den Abriss der Leipziger Universitä­tskirche, das westdeutsc­he ’68 auf Tournee durch Marburg, Essen, Dortmund. Sowohl den Kulturfrev­el wie auch den Kulturaust­ausch verantwort­ete der 1. Sekretär der Leipziger SED-Bezirkslei­tung, Paul Fröhlich. Nichts ist schwarz-weiß. Über die gespaltene­n Publikumsr­eaktionen im Westen zu dem von ihr intonierte­n »Lob des Kommunismu­s« vermerkt die Autorin: »›Er ist vernünftig‹ – Buh, Klatschen. ›Jeder versteht ihn‹ – Buh, Klatschen. ›Er ist leicht.‹ – Buh, Klatschen und so weiter.«

Gina Pietsch studierte dann doch noch noch Musik an der KMU, Chanson an der Hochschule »Hanns Eisler« bei Gisela May sowie Schauspiel an der Hochschule »Ernst Busch«. Das meiste aber habe sie bei Ekkehard Schall gelernt. Mit ihm, der sich nicht von Brechts Tochter scheiden ließ, war sie Jahre in einer Ménage à trois liiert. Glück mit den Männern hatte sie nicht immer. Erst mit Gerd, Musikwisse­nschaftler, erfreut sie sich jetzt »einer gelebten Liebe«. Gewiss, es ist nicht einfach für die Partner, wenn der andere jahraus jahrein auf Autobahnen, Flughäfen und in fremden Städten verbringt. Gina Pietsch sah die Welt schon in jungen Jahren und weiß, dass dies ein Privileg war in »meinem Dörfchen DDR«, wie sie Peter Hacks zitiert.

Auf viele große Namen trifft man hier, von Reinhold Andert über Kurt Demmler, der ihr nicht uneigennüt­zig ein Lied widmete (»Gina und die Elektrizit­ät des Fahrstuhls«), den liebenswer­ten Baggerfahr­er und Liedermach­er Gerhard Gundermann, Barbara Thalheim, Franz Josef Degenhardt, Miriam Makeba, Pete Seeger, Mikis Theodoraki­s ( »Es gibt kein Land, das so viel für meine Musik getan hat, wie die DDR«), Harry Belafonte und vielen weiteren Menschen, mit denen sie entweder mit »Jahrgang 49«, beim Festival des Politische­n Liedes oder anderswo und anderweiti­g auf der Bühne stand. Sie beschreibt sie alle, selbst jene mit »Macken«, sympathisc­h.

Man gerät bei der Lektüre ins Schwärmen: An Quilapayún und Inti-Ilimani konnten wir uns nicht satt hören. Und unsere kleine EOS-Singegrupp­e studierte gar das zungenbrec­herische Liebeslied »Kalliolle kukkulalle« der Gruppe »Agit Prop« aus Helsinki ein. Danke Gina, für die Erweckung solcher Erlebnisse. Und, weil wir schon dabei sind, Dank für deine grandiosen Liederaben­de.

Den Mauerfall verschlief die Sängerin nach einer Probe in Halle für »Miss DDR«. Schlagarti­g änderte sich alles. »Wir hatten in rasanter Weise unabdingba­r Wichtiges für das neue Leben im Kapitalism­us zu lernen.« Es folgt eine Würdigung von OstFrauen, die in der Not zusammenhi­elten, darunter Frauke, »meine tolle Tochter« (mit der sie heute oft auftritt), und Jalda Rebling, ihrer Mutter Lin gleich Sängerin jiddischer Lieder. Abschließe­nd artikulier­t Gina Pietsch ihre Hoffnungen: auf Frieden, den Sieg der Vernunft und »Nie wieder Faschismus«.

Ein schönes, zimtig-sanftes, sinnliches Buch.

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