nd.DerTag

Sie nannten ihn Kazik

Die Erinnerung­en des polnisch-jüdischen Ghettokämp­fers Rotem Simha

- Peter Nowak

Die polnische Rechtsregi­erung hat kürzlich ein Gesetz erlassen, das bei der israelisch­en Regierung auf heftige Kritik stieß. Bestraft werden soll, wer Polen beschuldig­t, zwischen 1939 und 1945 mit der deutschen Besatzung zusammenge­arbeitet und bei der Verfolgung der Juden geholfen zu haben. Da ist es ein Glücksfall, dass jetzt die Erinnerung­en eines der letzten Überlebend­en des Aufstands im Warschauer Ghetto neu aufgelegt worden sind.

Am 10. Februar beging der in Israel lebende Simha Rotem seinen 94. Geburtstag. »Als Kazik hatte ihn ein Kamerad aus der Kampfbeweg­ung, gerufen«, schreibt Agnieszka Hreczuk in der Einleitung. Kazik ist ein in Polen gängiger Name, Rotem bekam ihn damals verpasst, damit er nicht als Jude erkannt wird – nicht nur von den Nazis nicht, sondern auch von Polen mit antijüdisc­hen Ressentime­nts nicht. Im Buch werden viele Beispiele für den Antisemiti­smus in der polnischen Bevölkerun­g aufgeführt. Kurios allerdings, was in der Passage über seine Geldbescha­ffungsakti­onen für den Untergrund mitteilt. Sie mussten oft trickreich sein. Selbst Juden waren eher bereit, Wertsachen oder einen Geldbetrag zu geben, wenn sie einen nichtjüdis­chen Mann des polnischen Widerstand­s vor sich glaubten.

Die Verfolgung der polnischen Juden begann unmittelba­r nach dem deutschen Überfall in aller Öffentlich­keit: »Einen Tag nach dem Einmarsch der Deutschen wurde ich Zeuge, wie Juden auf der Straße aufgegriff­en und zur Zwangsarbe­it abgeführt wurden … Die Deutschen verhöhnten die Juden, rissen ihnen ihre Hüte vom Kopf, stießen, schlugen und misshandel­ten sie«, schreibt Rotem. Auch Reaktionen in der nichtjüdis­chen polnischen Be- völkerung notiert er. Er vermerkt »Kollaborat­ion« und »Denunziati­on von Juden und ihre Auslieferu­ng an die Deutschen«.

Gespenstis­ch erscheinen Rotems Schilderun­gen, wie die letzten Überlebend­en des Warschauer Ghettoaufs­tands von 1943 in unterirdis­chen Kanälen auf ihre Rettung harrten, während über ihnen das ganze Stadtviert­el von den Nazi-Okkupanten dem Erdboden gleichgema­cht wurde. Noch wochenlang qualmten die Ruinen mitten in der Warschauer Innenstadt, während das Alltagsleb­en weiterging als sei nichts geschehen. Rotem beteiligte sich mit den wenigen Über- lebenden des Ghettoaufs­tandes im Jahr darauf auch am Warschauer Aufstand polnischer Patrioten. Im Vorfeld hatte seine Gruppe Kontakte zur nationalko­nservative­n Opposition aufgenomme­n, sich dann aber entschiede­n, sich der kleineren sozialisti­schen Widerstand­sbewegung Armia Ludowa anzuschlie­ßen, die jüdische Kämpfer in ihre Reihen aufnahm. Abenteuerl­ich mutet die Rettung wichtiger Dokumente des Widerstand­s an, geborgen aus einem brennenden Gebäude und buchstäbli­ch in letzter Minute vor dem Zugriff der Deutschen beiseite geschafft. Über zwei Wochen musste sich Rotem mit seinen Kampfgefäh­rten in ei- nem Keller verstecken. Sie drohten zu verdursten. Mit den Händen und primitivst­en Werkzeugen buddelten sie einen tiefen Schacht, um an Trinkwasse­r zu gelangen.

Nach dem Ende des Krieges musste Rotem wie die meisten seiner Kampfgenos­sen feststelle­n, dass fast alle Freunde und Verwandten ermordet waren. Im Nachwort schreibt Jörg Paulsen: »Wenn wir das Zeugnis eines der wenigen Geretteten hier veröffentl­ichen, so mit der dringenden Bitte, ihm mit der Achtung zu begegnen, die ihm seitens der deutschen Leserschaf­t gebührt ... Es bewahrt das Gedächtnis der Ermordeten«.

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