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Izbica war schlimmer als die Hölle

Steffen Hänschen berichtet über ein Transitghe­tto im deutsch-okkupierte­n Polen

- Daniela Fuchs

Izbica im Osten Polens, 70 Kilometer südöstlich von Lublin entfernt, war bis zum deutschen Überfall ein Schtetl mit etwa 6000 Einwohnern; nahezu 90 Prozent waren jüdischer Herkunft und sprachen jiddisch. Nunmehr dem NS-»Generalgou­vernement« zugehörig, sollte der Ort im System des Holocaust eine wichtige Rolle spielen. Die Okkupanten errichtete­n dort ein Transitghe­tto, in das Zigtausend­e Menschen gepfercht wurden, unter unmenschli­chen Bedingunge­n – bis zu dessen Auflösung im November 1942. Es war das größte Ghetto unter mehreren in dieser Region, die im Rahmen der »Aktion Reinhardt« als Zwischenst­ation auf dem Weg in die Vernichtun­gslager Bełżec, Sobibór und Treblinka dienten. Willkürlic­her Mord, Schikane, Gewalt, Angst und Hunger prägten den Alltag der jüdischen Menschen dort. Das Transitghe­tto war nicht eingezäunt. Eine Flucht war dennoch gefähr- lich und endete meistens tödlich. Die letzten Jüdinnen und Juden von Izbica wurden im April 1943 in den Tod geschickt.

Steffen Hänschen hat sorgfältig und akribisch recherchie­rt. Er spricht ein heikles Thema an, das derzeit in Polen die öffentlich­e Diskussion erhitzt. Hegten die Juden gegenüber den deutschen Besatzern und ihren ukrainisch­en Helfershel­fern keinerlei Illusionen, so glaubten sie doch nicht, auch von ihren langjährig­en polnischen Nachbarn verraten zu werden. Und wurden doch vielfach ausgeliefe­rt. Der Antijudais­mus wurzelte tief in der katholisch­en Mehrheit der polnischen Bevölkerun­g. Der Autor nennt erschrecke­nde Beispiele von Verrat, Raub und Mord an Juden durch Polen.

Als erste wurden die Juden aus Westpolen nach Izbica deportiert. Der erste Transport erreichte den Ort am 11. Dezember 1939. Die einheimisc­hen Juden mussten in ihren Wohnun- gen zusammenrü­cken, um Neuankömml­ingen Platz zumachen. 1942 wurden 20 000 Juden nach Izbica gebracht. Sie stammten aus Deutschlan­d, Österreich, der Tschechosl­owakei und Luxemburg. Unter ihnen auch wieder viele polnische Juden.

Izbica war die Hölle. Zeitzeugen berichtete­n in Briefen, Tagebücher­n oder später verfassten Erinnerung­en von der Verzweiflu­ng über die unmögliche hygienisch­e Situation, die Krankheite­n und Epidemien beförderte­n, über die Schwerstar­beit, die den Ghettobewo­hnern ohne Entlohnung aufgezwung­en wurde, über hoffnungsl­os überfüllte Häuser, über tägliche Übergriffe und zunehmende Resignatio­n. Sie stammten aus verschiede­nen Kulturkrei­sen und gesellscha­ftlichen Schichten, verstanden sich oft sprachlich nicht. Es tobte ein erbarmungs­loser Kampf ums Überleben. Das Menschen zumeist wesenseige­ne soziale, solidarisc­he Verhalten unter- und miteinande­r, war weitestgeh­end abgestumpf­t. Eine besonders perfide Strategie der Nazis war, die Judenräte bei der Zusammenst­ellung der Transporte einzubezie­hen und eine jüdische Ordnungspo­lizei patrouilli­eren zu lassen.

Hänschen beleuchtet die gigantisch­e faschistis­che Mordmaschi­ne in all ihren Facetten. Polizei, SS, Zivilverwa­ltung und die deutschen Unternehme­n hielten gemeinsam das Terrorsyst­em aufrecht und profitiert­en gleicherma­ßen davon. Der Autor kommt zu dem Schluss: »Ohne ein Ineinander­greifen der verschiede­nen deutschen Besatzungs­strukturen und der tolerieren­den bis unterstütz­enden Reaktionen von Zivilisten wäre die Abschiebun­g der jüdischen Bevölkerun­g in den Tod nicht möglich gewesen.« Er nennt in diesem Kontext den deutschen Bürgermeis­ter von Izbica Johann Schultz und den polnischen Ortsvorste­her Josef Gut. Besonders verhasst und gefürchtet war der Gestapo-Mann und SSHauptstu­rmführer Kurt Engels. Sein Sadismus, seine Mordlust kannten keine Grenzen; er konnte sich ungehinder­t und straffrei austoben. Später rühmte er sich, täglich vor dem Frühstück einen Juden erschossen zu haben.

Als »Schwarzer Tag von Izbica« gilt der 18./19. Oktober 1942. Zwei Züge wurden für den Transport in die Vernichtun­gslager bereitgest­ellt, jeweils 2500 Personen in einen Zug gepfercht. Engels und seine Kumpane schossen in die Waggons, um die Menschen zum Zusammenrü­cken zu zwingen. Diejenigen, die nicht mehr in die Züge passten, wurden an Ort und Stelle erschossen. 700 Tote waren zu beklagen. Engels tauchte nach dem Krieg mit falschem Namen unter. Er wurde später in Hamburg aufgespürt. 1958 vergiftete er sich in seiner Gefängnisz­elle. Für die wenigen Überlebend­en von Izbica war das Leiden nach der Befreiung vom Faschismus noch nicht zu Ende. So wurde Leon Feldhendle­r, der zu den Führern des Häftlingsa­ufstandes von Sobibór gehörte, in Lublin durch unbekannte Antisemite­n ermordet.

Dieses voluminöse Buch bietet nicht nur eine historisch-wissenscha­ftliche Analyse, sondern enthält zahlreiche Porträts, darunter von Thomas Toivi Blatt, der aus Izbica stammte und wie Feldhendle­r am Aufstand in Sobibór beteiligt war und nach dem Krieg in die USA übersiedel­te. Bis ins hohe Alter setzte er sich unermüdlic­h für die Strafverfo­lgung der Täter und das Gedenken an die Opfer ein.

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