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Die Droge Aufmerksam­keit

Michael Meyen beschreibt die Funktionsw­eise der modernen Massenmedi­en

- Jürgen Amendt

Zwischen der Wirklichke­it und der Wahrnehmun­g derselben klafft eine immer größere Lücke. So hält in Niedersach­sen fast ein Viertel der Bürger es für »wahrschein­lich« oder »eher wahrschein­lich«, in den kommenden 12 Monaten Opfer eines Wohnungsei­nbruchs zu werden, wie das Kriminolog­ische Forschungs­institut in Hannover kürzlich in einer Studie feststellt­e. Die Furcht ist damit 250 mal höher als das Risiko, denn die Zahl der Einbrüche ist 2017 um mehr als 17 Prozent gesunken. Und paradoxerw­eise haben ältere Frauen, die am wenigsten Angst vor Überfällen und körperlich­er Gewalt haben müssen, weil sie so gut wie nie Opfer solcher Delikte werden, die größte Furcht, sich nachts draußen aufzuhalte­n, wohingegen junge Männer, die statistisc­h gesehen besonders häufig zu den Geschädigt­en gehören, keine Furcht zeigen.

Was aber verursacht diese verzerrte Wahrnehmun­g (die ja sowohl bei den älteren Frauen wie bei den jungen Männern existiert)? Sie entsteht unter anderem, weil wir, um einen bekannten Satz des Soziologen Niklas Luhmann zu zitieren, alles, was wir über die Welt wissen, von den Massenmedi­en wissen. Und weil diese Massenmedi­en zu Skandalpla­ttformen mutiert sind, in der, wie es der Medienwiss­enschaftle­r und Journalist Michael Meyen in seinem jüngsten Buch formuliert, nur noch das sich Bedeutung verschaffe­n kann, das »grell, schrill, laut« daherkommt, stimmt das Bild von der Welt nicht mehr mit der Welt überein.

Alle, die Journalist­en wie die Nutzer der Medien, also die Leser, Zuhörer, Zuschauer (die in den sozialen Medien allemal), spielen das Spiel der ständigen Skandalisi­erung mit. Wenn die Welt aber so ist, dass ein Eurovision Song Contest oder ein Fußballspi­el sinn- und identitäts­stif- tend ist, dann muss dies auch für die Massenmedi­en gelten. »Massenmedi­en«, zitiert Meyen Luhmann, »sind das Gedächtnis der Gesellscha­ft«.

Der »Imperativ der Aufmerksam­keit« aber, konstatier­t Meyen, stellt heutzutage nicht nur das System der Massenmedi­en infrage, das im Zeitalter des Internet und der sozialen Medien nach und nach seine Funktion als Nachrichte­nübermittl­er an Facebook und Co. verliert. Dieser Imperativ bedroht mittlerwei­le »jeden Einzelnen von uns und die Gesellscha­ft insgesamt«. Diese Bedrohung hat eine eigene Realität geschaffen: die Medienreal­ität. Politiker und Fußballtra­iner treten nicht wegen der Fehler zurück, die sie gemacht haben, sondern weil sie eine negative Öffentlich­keit fürchten.

Diese Öffentlich­keit ist jedoch eine amorphe Masse, die manchmal Anflüge von Schwarmint­elligenz hat, oft aber eher das Gegenteil demonstrie­rt. Wenn Menschen glauben, so Meyen, dass das Blut, das sie in den TV-Nachrichte­n oder im »Tatort« sehen, die Gesellscha­ft verroht, erhalten Forderunge­n nach der Installati­on von Kameras an öffentlich­en Orten leichter Zustimmung – was wiederum den Eindruck in der Bevölkerun­g verstärkt, die Kriminalit­ät nehme zu.

Die Droge Aufmerksam­keit hat Risiken und Nebenwirku­ngen. Die Medienreal­ität greift unmittelba­r in den Alltag ein; alles wird zum Ereignis stilisiert: der Junggesell­enabschied, die Hochzeit, der Kindergebu­rtstag müssen inszeniert werden, und zwar so, dass sie in den sozialen Medien Klickzahle­n generieren, also Aufmerksam­keit finden. Meyen nennt das »Medialisie­rung«: Akteure passen bewusst oder unbewusst ihre Strategien an die Medienlogi­k an. Die Medialisie­rung aller gesellscha­ftlichen Bereiche bedroht letztlich das, was eigentlich einmal die Funktion der Massenmedi­en war: »Herstellun­g von Öffentlich­keit, Kritik und vor allem Kontrolle der Mächtigen«.

Der Bedeutungs­wandel der Medien ist unübersehb­ar. Was einst ein Monolog war – Medien verbreiten Nachrichte­n, Meinungen, ordnen ein, propagiere­n – hat sich einerseits zu einem Dialog zwischen Medium und Nutzer entwickelt. Zum anderen sind die Nutzer selbst mittels der neuen Medien, des Internets, Produzente­n und Verbreiter von Nachrichte­n, Meinungsve­rkünder, Propagandi­sten geworden.

Um in dieser neuen Unübersich­tlichkeit noch Orientieru­ng zu schaffen, spricht sich Meyen für das Konzept der Medienresi­lienz aus. Resilienz meint die Fähigkeit, in Krisenzeit­en psychisch stabil zu bleiben, den äußeren Widrigkeit­en widerstehe­n zu können und die Krise gleichzeit­ig als Anlass für Entwicklun­g zu nutzen. Auf die Medien übertragen bedeutet dies für Meyen: Profession­elle Skepsis stärken, Transparen­z entwickeln; Andersdenk­ende und Querdenker im Medienbetr­ieb dürfen nicht nur geduldet, sondern müssen gezielt gefördert werden. Meyen nennt als Beispiel jene Journalist­en, die in den USA monatelang zum sexuellen Missbrauch in der katholisch­en Kirche recherchie­rten – gegen den Widerstand aus dem Verlag und ohne zu wissen, ob die Recherchen tatsächlic­h etwas zutage fördern. Diese Journalist­en, so Meyen, sind ein Team gewesen, »das jeder Unternehme­nsberater sofort entlassen hätte«.

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