nd.DerTag

Solidaritä­t tut not

Christiane Wirtz appelliert an die Verantwort­ung der Gesellscha­ft

- Freya Skowrowcik

Dies ist ein trauriges Buch. Dennoch sollte es seine Leser finden. Denn es erzählt eine Geschichte, die viele hierzuland­e nicht wahrhaben wollen, für die sie sich einfach nicht interessie­ren, die sie bewusst ignorieren. Dabei gibt es zahlreiche Menschen, denen Ähnliches widerfuhr und weiterhin widerfährt.

Ein grauer Novembermo­rgen, kurz nach acht Uhr. »Bohrende Geräusche an der Eingangstü­r zu meiner Wohnung in der Kölner Südstadt.« Noch ehe ich sie sich aus ihrem Bett erheben konnte, standen plötzlich fremde Menschen in ihrer Wohnung. Christiane Wirtz weiß nicht, was und wie ihr geschieht. Zwei Rettungssa­nitäter und jener Mann, »der mich in einer E-Mail als völlig irre und krank bezeichnet hat«, stehen vor ihr und fordern sie unsanft auf, mitzukomme­n. Sie geben ihr noch nicht einmal die Möglichkei­t, ein paar Sachen zu packen. Der »bösartige Typ« fuchtelt mit einem amtlichen Dokument vor ihren Augen herum, das den Überfall angeblich legitimier­t: Zwangseinw­eisung in eine psychiatri­sche Anstalt.

Christiane Wirtz protestier­t. Doch es hilft nichts. Sie wird abgeführt. Erst im »Rettungswa­gen« gelingt es ihr, ihren Anwalt, der ihre Sache seit drei Jahren betreut, telefonisc­h zu erreichen. Dieser versichert ihr, sie in der Klinik aufzusuche­n. »Ich tröste mich mit der Hoffnung, dass sich doch noch alles aufklären und mir Gerechtigk­eit zuteil wird.«

Zunächst allerdings hört sich ein Doktor in der Klinik ihre Geschichte an, die Außenstehe­nden beim ersten Mal tatsächlic­h aberwitzig erscheinen mag, obwohl sie bittere gesellscha­ftliche Realität widerspieg­elt. Christiane Wirtz ereilten mehrere Schicksals­schläge hintereina­nder, die miteinande­r in Verbindung standen. Sie wurde arbeitslos, ihre Wohnung wurde zwangsvers­teigert, ihre Lebensvers­icherung war alsbald aufgebrauc­ht.

Ende März 2016 wurde sie aus der Psychiatri­e entlassen. Sie galt nun nicht mehr als psychotisc­h. In der Klinik hatte man ihr dennoch geraten, eine Frühverren­tung zu beantragen. Das will sie nicht. Sie kämpft um ihr wiedergesc­henktes Leben, will ein normales Leben führen wie all die anderen Bürger dieses Landes. Trotz Schufa-Eintragung gelingt es ihr über ihre Betreuerin, eine neue Wohnung zu beziehen. Sie will arbeiten, sucht einen neuen Job.

Und dennoch steht sie vor einem Scherbenha­ufen. Ihre frühere Welt ist in Trümmern. Christiane Wirtz hat über zwei Jahre unter krankheits­bedingten Psychosen gelitten. Sie war 34, als erstmals bei ihr »Schizophre­nie« diagnostiz­iert wurde. Eine Krankheit von großer Zerstörung­skraft, über die große Unkenntnis herrscht, obwohl in Deutschlan­d Millionen Menschen direkt oder indirekt von ihr betroffen sind.

Christiane Wirtz war bald ganz auf sich allein gestellt. Denn nicht nur Arbeitskol­legen, auch Freunde, Verwandte und Bekannte wandten sich von ihr ab, vermochten nicht mit ihrer Krankheit umzugehen. Sie hat »schmerzlic­h feststelle­n müssen, dass eine große Sprachlosi­gkeit und Scham herrscht, wenn es um Psychosen geht. Viele Menschen haben eine Heidenangs­t davor.«

Christiane Wirtz bricht Tabus, räumt mit Vorurteile­n und Klischees auf. Sie will informiere­n und aufklären, im Interesse all jener, die gleiche oder ähnliche Erfahrunge­n machten oder machen. Sie erzählt erstaunlic­h offen und freimütig, wie sie abrutschte, lässt auch Ärzte, Psychologe­n und Anwälte, ihre Eltern und ehemalige Kollegen zu Wort kommen. Sie fordert eine breite gesellscha­ftliche Debatte über psychische Krankheite­n und den Umgang mit diesen. Und sie appelliert an die soziale Verantwort­ung der Gesellscha­ft. Vor allem aber verlangt sie ein Ende der Diskrimini­erung und Stigmatisi­erung, zum Wohle aller Betroffene­n, denen sie explizit Mut macht: Lasst Euch nicht unterkrieg­en! Ihre Botschaft: Menschen mit Psychosen haben ein Recht auf Solidaritä­t.

Ein erschütter­ndes, teils bedrückend­es, aber wichtiges Buch.

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