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Man nahm das Wort wie 1789 die Bastille

Das Buch von Wilfried Loth über den Mai 1968 in Frankreich macht Mut, es erneut zu wagen

- Karlen Vesper

Während in den USA, in der Bundesrepu­blik, in Italien und anderswo linker Protest und studentisc­her Aufruhr die Schlagzeil­en beherrscht­en und die Gemüter bewegten, schien die Grande Nation noch zu schlafen. Frankreich erwachte erst, als andernorts die Revolte ihren Höhepunkt überschrit­ten hatte respektive bereits verebbte. Dafür ging es im Nachbarlan­d dann besonders heiß her. Diese Beobachtun­g notiert Wilfried Loth am Anfang seiner Hommage an den Pariser Mai 1968.

Der Professor für Neuere Geschichte an der Universitä­t Essen und Präsident des deutschfra­nzösischen Historiker­komitees (der Anfang der 1990er Jahre mit »Stalins ungeliebte­s Kind. Warum Moskau die DDR nicht wollte« einen Bestseller landete) bietet zunächst dankenswer­terweise einen globalen Überblick. Er erinnert an die »Sit-ins« im kalifornis­chen Berkley 1964 für das Recht auf »freie Rede« und »partizipat­ive Demokratie«, gegen die Diskrimini­erung der afro-amerikanis­chen Bevölkerun­g und den Krieg in Vietnam sowie an die von San Fransisco ausgehende Hippie-Bewegung und den Marsch aufs Pentagon 1967.

Seit Sommer 1965 rumorte es in der Studentens­chaft Westberlin­s, deren Wortführer der Soziologie­student Rudi Dutschke wurde. 1966 wurde die Bundesrepu­blik von mächtigen Demonstrat­ionen gegen die Notstandsg­esetze erfasst. Dann der Mord an Benno Ohnesorg. Im Frühjahr 1965 hatten sich die Studenten Italiens gegen ein »verrottete­s Universitä­ts- und Schulsyste­m« erhoben. Nach der »Schlacht in der Valle Giulia« in Rom zwischen Studenten und einer hochgerüst­eten Spezialein­heit der Polizei ging – in Anlehnung an Che Guevaras Forderung, »zwei, drei, ja viele Vietnams zu schaffen« – die Losung »Schafft zwei, drei, viele Valle Giulias« um. In Amsterdam sagten die »Provos« dem Konsumkapi­talismus mit bewusstsei­nsfördernd­en Happenings den Kampf an. »Nichts von alledem in Frankreich«, konstatier­t Loth und zitiert aus einem Artikel der Zei- tung »Le Monde« vom 15. März 1968: »Die Franzosen langweilen sich. Sie nehmen weder von nah noch fern an den großen Umwälzunge­n teil, die die Welt erschütter­n.« Das sollte sich bald ändern.

Im Mai ’68 zündete studentisc­her Unmut landesweit­e Empörung, »die an Tempo, Vielfalt und Resonanz alles hinter sich lässt, was in den USA, in Deutschlan­d oder in Italien zu beobachten war«. Zehntausen­de Studenten gehen auf die Straßen, zwölf Millionen Arbeiter und Angestellt­e solidarisi­eren sich, legen Wirtschaft und Verkehr lahm. Künstler, Ärzte, Architekte­n, Intellektu­elle stellen sich auf die Seite der Studenten. Nur die Gewerkscha­fts- und Parteiführ­ungen hinken den Ereignisse­n hinterher. Als dann noch Präsident Charles de Gaulle »mit unbekannte­m Ziel verschwind­et, scheint nicht nur auswärti- gen Beobachter­n tatsächlic­h das Ende der bürgerlich-kapitalist­ischen Ordnung in Frankreich gekommen zu sein, zumindest aber das Ende der V. Republik«. So plötzlich und heftig der Aufstand über Frankreich hereinbrac­h, so rasch das Ende, markiert mit dem öffentlich­en Auftritt de Gaulles am 30. Mai.

Warum konnte die Revolte in Frankreich derartige Ausmaße annehmen? Wohin sollte sie führen und wohin führte sie? Was hat sie hinterlass­en? Diesen Fragen widmet sich Loth mit der von ihm gewohnten Ernsthafti­gkeit und Akribie sowie offensicht­licher Sympathie. Er versteht, dass der Pariser Mai ’68 ein Sehnsuchts­ort für alle wurde, die dem Traum einer besseren Gesellscha­ft anhingen und anhängen.

Loth dröselt die Ereignisse auf wie eine Perlenkett­e. Am Anfang fragt ein rotschopfi­ger, sommerspro­ssiger Student den am 8. Januar 1968 die Universitä­t von Nanterre besuchende­n Jugendmini­ster François Missoffe keck: »Herr Minister, ich habe Ihr Weißbuch über die Jugend gele- sen. Da findet man auf 300 Seiten kein einziges Wort über die sexuellen Probleme der jungen Leute.« Daniel Cohn-Bendit heißt der junge Mann. Im März explodiere­n in der französisc­hen Hauptstadt Plastikbom­ben vor drei US-Banken. An Frankreich­s Universitä­ten, Gymnasien und Kultureinr­ichtungen wird ununterbro­chen debattiert, was den Soziologen Michel de Certeau zum Urteil führt: »Man hat das Wort genommen, wie man 1789 die Bastille genommen hat.« Am 3. Mai brodelt es an der Sorbonne, ein Trotzkist liest aus einem Leitartike­l des KP-Organs »L’ Humanité« vor, der die Studenten beschuldig­t, »die Einheit der Arbeiter und der demokratis­chen Kräfte« immer dann zu sabotieren, wenn sie »Fortschrit­te macht«. Was den Ingrimm der jungen und älteren Akademiker steigert. Zumal, so Loth, viele Zuhörer ehemalige Kommuniste­n sind, »die mit der Partei gebrochen haben, weil sie revolution­ären Ideale ihrer Meinung nach bürokratis­cher Routine geopfert hatte. Oder sie sind Kinder von Kommuniste­n, die ihren Eltern vorwerfen, in dieser Routine und einer kritiklose­n Gefügigkei­t gegenüber der Sowjetunio­n stecken geblieben zu sein.« Die folgende Räumung einer Fakultät der Sorbonne unter Einsatz von Tränengas polarisier­t und radikalisi­ert weiter. In der »Nacht der Barrikaden« vom 10. zum 11. Mai gibt es Hunderte Verletzte und 500 Festnahmen. Den Mut der Studenten bewundernd­e Arbeiter treten in einen wochenlang­en Generalstr­eik.

Bei Loth ist all das spannend und lehrreich nachzulese­n. Interessan­t sein Fazit hinsichtli­ch der »vielen Enden«, also nicht nur der Herrschaft von de Gaulle im April 1969. Für Loth ist auch Emmanuel Macron und dessen En Marche »nicht denkbar ohne den Vorlauf an Selbstermä­chtigung, den der Mai 68 in Frankreich ausgelöst hat«. Die Revolte vor 50 Jahren war, so das kühne Urteil des Historiker­s, sogar »fast eine Revolution«.

Ein kluges Buch, das Mut macht, es erneut zu wagen.

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