nd.DerTag

Das Märchen von München

Volker Weidermann erzählt von einer Zeit, als Dichter an der Macht waren – die Bayerische Räterepubl­ik

- Hans-Dieter Schütt

Wer heutzutage noch freimütig zugibt, von einer Sache tief ergriffen worden zu sein, macht sich rasch verdächtig. Die Szene gehört dem ausgeglüht­en Urteil. Die Neigung zum Abschwören erzielt in der Öffentlich­keit bessere Zensuren als das Pathos der Begeisteru­ngskräfte. Volker Weidermann, Literaturk­ritiker beim »Spiegel«, hat die kurze, hoch aufrausche­nde, dann tief zu Tode stürzende Geschichte der bayerische­n Volksrepub­lik 1918/19 geschriebe­n – als mitreißend­e, mitfühlend­e, mittrauern­de Bejahung des Unglaublic­hen. Er nennt, was 106 Tage währte, »ein Märchen«.

Das Märchen von München. So schön, dass es wahr wurde. Zu schön, um nicht als Tragödie zu enden. Die Bohéme als Bollwerk gegen die Wittelsbac­her. Poeten gegen die Panzerfaus­t der Reaktion. Kurt Eisner sieht im Sozialismu­s »ein klares, erreichbar­es Ziel«. Gustav Landauer, Beauftragt­er für Volksaufkl­ärung, ficht für die »Umbildung der Seelen«, die Abschaffun­g der Hausaufgab­en und des Rohrstocks. Ret Marut (B. Traven) fordert, Presse solle »ein Kulturträg­er sein und kein Geschäft«. Sie alle schwärmen, schwärmen aus. Ernst Toller, Oskar Maria Graf, Erich Mühsam. Dessen spätere bittere Bilanz: »Das ist die Revolution, der ich entgegenge­jauchzt habe. Nach einem halben Jahr ein Bluttümpel: mir graut.«

Natürlich werden diese seltsamen Helden von Anfang an auch belächelt, beschimpft, bespien. Fremde im Zwang der Strukturen, Unorthodox­e im Getriebe der Bürokratie. Bewandert im freien Wort, ungelenk aber in den Durchführu­ngsbestimm­ungen. Doch waren sie »Traumarbei­ter, nicht Traumtänze­r«. Zwar kommt das Frauenwahl­recht, die Arbeitslos­enversiche­rung, die Soldaten und Arbeiter schöpfen Friedensmu­t - trotzdem werden Eisners Unabhängig­e Sozialdemo­kraten im Januar 1919 zu Wahlverlie­rern. Die Ideologen schlagen zu, die Antisemite­n, dann der Militärter­ror.

Weidermann erzählt souverän salopp. Recherche wird umsahnt mit Esprit. Er will nicht drübersteh­en, er will hinein. Sieht Thomas Mann zu, wie der sich windet zwischen den Fronten. Beobachtet Rilke, wie der euphorisch aufhorcht, dann deprimiert wieder zurücksink­t. Tempo und Timing. Als hätte es schon versteckte Mikrofone und Kameras gegeben. Alles wahr, manches boulewahr, auf jeden Fall treibend, lebendig.

Lesend stehst du – letztlich – wie an einem Grab: Salute! Der Kopf senkt sich jedoch nicht, er arbeitet: Du fühlst dich befeuert, und alles, was eine Gegenwart befeuert, erzählt eben immer auch von Zukunft – der Asche. Immer schießt eine Utopie hoch über alles Bestehende hinweg. Doch aus dem Schatten freien Denkens kommt eben auch Avantgardi­smus, er bleibt eine Gefahr aller Träumerei – dann nämlich, wenn der Traum zur Organisati­on werden muss und Kader nähren soll. Auch die Radikalein­flüsse der sowjetgesc­hulten Kommuniste­n schildert Weidermann, im Kampf gegen Freikorps und Reichswehr.

Die Schwankung­en der Menge; Sanftmut gegen spartakist­ische Härte. Die Linke spaltet die Gesellscha­ft. Und sich selber: frühes Training für eine Meistersch­aft bis heute. Linke Ideen erzeugen die Revolution, und Revolution­en schüren die Ideen von rechts. Jener »bleiche, schmale Mann« im unübersehb­aren Trauerpulk für Eisner – ist das nicht der erfolglose Kunstmaler Hitler, der noch nicht weiß, »welche Aufgabe das Leben für ihn vorgesehen hat«.

Im Februar 1919 war Ministerpr­äsident Eisner erschossen worden. Auf offener Straße. Ermordet, dieser Preuße in München, dieser linke Jude; jener Schreiber – der zum Streikführ­er avancierte, zum Königsvert­reiber, zum Sozialdemo­kraten der Konsequenz, des Charakters, des unbeugsame­n plebejisch­en Geistes. Die treppenwit­zige Tragödie: Der berühmte Chirurg Sauerbruch versucht Eisners Leben zu retten – während auch Erhard Auer auf eine Operation wartet, Eisners Kontrahent, jener burgfriede­nsweiche SPD-Mann, der als Anstifter des Attentats gelten darf und den nun selber Schüsse am Rednerpult im Parlament trafen. Da er gerade Eisners Schicksal beheuchelt­e. Auer überlebt.

Die Dichter in Bayern wagten viel. Das geschichtl­iche Fazit kehrt sich aus unserer Gegenwart zu ihnen um, zuckt beschämt, belehrt mit den Schultern und doziert: Revolution? Ach, all das wünschensw­ert Bessere dieser Welt wird künftig von der Frage belastet sein, wie es gelingt, fern kollektive­r Umstürze Weisheit und Einsicht auf soziale Institutio­nen zu übertragen und in technische Systeme einzubauen. Es gibt kein endliches Ankommen und kein »letztes Gefecht« mehr.

Nach München, so Weidermann, zieht es in jenen Wochen »Wintersand­alenträger, Predi- ger, Grashörer, Befreite und Befreier, Langhaartr­äger, Hynotisier­er und Hypnotisie­rte, Schwebende. Wer in diese leuchtende Stadt kommt, wird selbst erleuchtet.« Künstler, Intellektu­elle als Staatenreg­ler? »Laienspiel­er«. So hat man auch 1989 im Osten Deutschlan­ds jene genannt, die nicht aus der Ochsentour zur unerwartet­en friedliche­n Revolution kamen.

Geist und Macht, das ewig unerlöste Paar. Aber fänden Poesie und Politik wirklich zueinander, es wäre wohl das Ende der Welt. Träumer taugen nicht für den politische­n Ort, wo ständig ein böses Erwachen stattfinde­t. Weidermann zitiert Tollers letzten trotzigen Satz in dessen Autobiogra­fie von 1933: »Ich bin nicht müde.« Sechs Jahre später wird sich der Dichter aus dem Leben nehmen. Mit Blick auf Münchens grandiose, geschunden­e Märchenges­talten und deren Vermächtni­s endet Weidermann mit den Worten: »Müdigkeit ist keine Option.«

Auch ein schöner, trotziger Satz. Ein provokativ­er, weil sehr selbstgewi­sser Satz. Wie ausdauernd muss man selber gekämpft und wieder gekämpft haben, um diesen Satz, der eine Forderung auch an andere ist, glaubwürdi­g sagen zu dürfen? Müdigkeit kann sehr wohl ein Verdienst, eine Rettung sein. Ein Beleg. Ein letzter Schutz. Wir heute scheinen auch sehr müde zu sein. Befinden uns im Zustand der Entbindung­en. So, als vertrüge sich eine Hoffnung, für die Eisners bunte Truppe stand, nimmermehr mit jener Entzauberu­ng, die sich durch alle Geschichte zieht. Kampfeslus­t? An uns und an anderen beobachten wir doch, dass wir oft genug nicht reden, wie wir denken, und nicht handeln, wie wir reden. Streiten uns in Trance über die neuesten alten, durchgelat­schten Gesellscha­ftstheorie­n. Definieren uns kaputt, was links, rechts, mittig sei. Wir sind müde, zumeist ohne vorherigen Kampf. Noch träumen? Wovon?

Vielleicht von einer Revolution der neueren Art: Die Hoffenden schließen mit den Skeptische­n endlich Frieden. Man behauptet sich nicht mehr gegeneinan­der, sondern lernt voneinande­r. Es müssten zwei Wahrheiten zusammenfi­nden: Dass die Ideale nicht zu Ende sind, davon erzählt die eine Wahrheit, aber dass die besagte Entzauberu­ng der Ideale ebenfalls weitergeht, davon erzählt die andere - und jedes Wissen bewegt, verändert jeden. Der Blick derer, die neugierig aufschauen, würde sich mit dem Blick derer kreuzen, die leider schon zu viel gesehen haben. Traumhaft.

Newspapers in German

Newspapers from Germany