Wo Europa aufhört
Luciano Canfora und Eva C. Schweitzer zeichnen ein düsteres Bild
Manchmal wird eine Freundschaft durch Schicksalsschläge auf die Probe gestellt. Oder weil ein Beteiligter aus Neid, Gier oder schlichter Arroganz dem Gefährten eine Wunde zufügt. Plötzlich tun sich Welten zwischen einstigen Verbündeten auf. Mit eben dieser Wahrnehmung scheint Europa derzeit auf den transatlantischen Partner USA zu schauen. Der Monolith der westlichen Wertegemeinschaft beginnt in der Ära Donald Trump zu bröckeln. Der seit einem guten Jahr amtierende Präsident der Vereinigten Staaten unterstützt die Nationalisten innerhalb der EU und entbrennt einen Handelsstreit mit ungeahnten Folgen. Doch wie konnte es überhaupt so weit kommen? Zwei aktuelle Bücher geben darüber Aufschluss.
Die promovierte Amerikanistin Eva C. Schweitzer arbeitet seit zwanzig Jahren in New York für deutsche Medien. Sie zeigt in ihrem Buch, wie der aktuelle USPräsident tickt und warum seine Politik gerade jetzt so erfolgreich ist, in den USA und in Europa. Trump ist nicht nur ein gewiefter Geschäftsmann, der zwar wie der sprichwörtliche Mann auf der Straße rede, allerdings zunächst mit Hilfe der Betonmafia als Baulöwe reich wurde. Nach der Immobilienkrise setzte er zudem auf das Feld des Reality TV und wurde so vielen USAmerikanern mit Namen und Haartolle bekannt. Die Idee, Präsident zu werden, soll laut Schweitzer schließlich auch im Laufe von Trumps Fernsehkarriere herangereift sein. Mit Erfolg: »Trump ist die erste moderne Version des Populismus im Zeitalter der Globalisierung und der Neuen Medien«, schlussfolgert die Autorin. Und warnt vor dessen Doppelgesichtigkeit.
Denn der nunmehr mächtigste Mann der Welt mag mit seinem »America first«-Mantra nationalistisch agieren, er ist als Immobilienmogul aber auch seit jeher international vernetzt mit anderen Reichen und Mächtigen – am bekanntesten sind seine Kontakte nach Russland.
Osten und Westen als zwei Pole politischen Denkens sind damit verwischt. Genau deshalb steckt Europa in der Sinnkrise. Trumps Politik wird diese verstärken. Der Populismus ist bereits rund um Brüssel auf dem Vormarsch und könnte den EUKritikern bis -Feinden bei der Europawahl im nächsten Jahr in der einzigen von der Bevölkerung direkt gewählten EU-Institution ungeahnte Macht verleihen.
Doch es geht um mehr. Europa steht wie vor hundert Jahren am Scheideweg. Während Eva C. Schweitzer beim Phänomen Trump stehen bleibt und seinen Aufstieg mit einem Exkurs in die Weltkriege samt dem Kalten erklärt, schlägt Luciano Canfora einen größeren Bogen. Der Altphilologe und Historiker sieht im Westen gleich mehrere Konstrukte. Amerika und Europa sind demnach keine Einheit – der kleine Partner hat sich nie emanzipiert.
»Auch heute ist es bei jedem Anzeichen von Knirschen oder Spannung innerhalb dessen, was wir heute EU nennen und was vor 60 Jahren unter anderem Namen in Rom entstanden ist, eine direkte (über den Internationalen Währungsfonds) oder indirekte US-amerikanische Intervention, die das letzte Wort hat und den Kurs, innerhalb dessen man sich zu bewegen hat, vorgibt.« Auf Ebene der internationalen Beziehungen bleibe die Europäische Union »eine Größe unter Vormundschaft«, so Canfora. Ob der nun zu Tage tretende Handelsstreit daran etwas ändern wird, kann der italienische Historiker noch nicht beantworten. Er ist jedoch überzeugt davon, dass die Abhängigkeit Europas auch in der nicht nur im Kalten Krieg zu Russland aufgebauten Gegnerschaft ein Maß erreicht hat, das es dem Kontinent schwer machen wird, in nächster Zeit dem »Fernen Westen« zu entkommen.
Dabei spielen nicht nur Wirtschaftsdaten eine Rolle. Europa müsste die Bedeutung der modernen Sklaverei erkennen, in die Canfora auch die Tötung des Schwarzen Michael Brown in Ferguson im Jahr 2014 einordnet. Gleichzeitig bliebe das Paradoxon des globalen Kapitalismus bestehen, der eben niemals den gesamten Planeten umfassen wird, da sonst jene an der Spitze der aktuellen Pyramide ihren Standard senken müssten. Schließlich verweist Canfora auf seine Analyse der demokratischen Herrschaft, die ihn hierzulande bekannt machte (»Eine kurze Geschichte der Demokratie«, 2006).
Canforas Essay zeigt die Vertraktheit der Lage des Westens anders als Eva C. Schweitzers Episodenband nicht an der Realpolitik der aktuellen Eliten auf. Er stellt vielmehr vor allem für Linke wichtige Fragen dieser Zeit: Ist das kapitalistische Modell überwindbar? Wer ist bereit, die im 20. Jahrhundert begonnene Partie um die soziale Ordnung mitzufechten? Die Antworten darauf werden nicht nur das Schicksal von Amerika und Europa beeinflussen.