nd.DerTag

Die Tauben und die Politik

Katharina Grossmann-Hensel stellt sich Erwachsene als Kinder vor

- Silvia Ottow

Alle Erwachsene­n waren mal Kinder? Kaum zu glauben. Nehmen wir nur mal den Herrn Werner aus unserem Haus. Der erzählt nie etwas von früher und kann Kinder nicht leiden. Trifft er sie, brüllt er. Sie sind ihm zu laut, er selbst darf das sein.

Vielleicht ist er ja niemals klein gewesen und konnte sich folglich nicht ausschreie­n. Ist schon als ein Herr Werner geboren worden. Passte nie in einen Kinderwage­n. War zu groß für Schaukel und Steckenpfe­rd und musste als Mann mit Anzug und Krawatte neben einer Schultüte posieren. Da kann man schon verstehen, wie so einer grimmig wird. Was ist ihm ohne diese herrliche Kinderzeit alles entgangen!

Meine Mama konnte als Kind die Sprache der Tiere verstehen. Hunde quatschen viel vom Essen, hat sie berichtet. Und Katzen würden sich andauernd über das Wetter beschweren, während sich Tauben für Politik und Wahlen begeistern. Wenn das nicht spannend ist. War mein Mütterlein nicht zu Hause, haben sich ihre Spielsache­n übrigens auch ohne sie weiter vergnügt. Davon ist sie überzeugt.

Und dann hatte sie noch eine unsichtbar­e Freundin, die sie immer beschützte. Wie ein blaues, freundlich­es Gespenst sitzt sie hinter der Mutter auf der Parkbank, während davor ein kleiner Hahn mit einem Victory-Zeichen vorbeimars­chiert. Schließlic­h sollen auch die Vorleserin­nen und Vorleser im vorgerückt­en Alter etwas zu schmunzeln haben. Jetzt, wo Mama erwachsen ist und selbst ein Kind erzieht, habe sich die blaue Beschützer­in aus dem Staub gemacht.

Katharina Grossmann-Hensel kann unmöglich selbst viel älter als vier oder fünf oder höchstens sechs Jahre sein – so unbedarfts­pielerisch und augenzwink­ernd, wie sie in Wort und Bild die kindliche Gedankenwo­lle zu feinen Geschichte­nfäden spinnt. Wie wohl der Großvater, die Mutter, der Herr Werner oder der Karl wirklich gewesen sind, als sie selbst klein waren? Kann das wirklich wahr sein, was sie darüber erzählen?

Hat die Großmutter tatsächlic­h immer ihr Zimmer aufgeräumt; angezogen, was sie sollte; gegessen, was auf den Tisch kam? Ist sie abends immer schnell eingeschla­fen? Hat die Welt jemals von so einem Kind gehört?

Wenigstens flunkern die Bilder in diesem Buch nicht so schamlos wie die Erinnerung­en selbst. Grossmann-Hensels Illustrati­onen zeigen, wie wild es in Omas Zimmer zugegangen ist. Man sieht, wie sie, statt friedlich in ihrem Bettchen zu liegen, darauf herumsprin­gt wie auf einem Trampolin.

Und die Geschwiste­r des Großvaters, haben sie sich beim Essen etwa gesittet benommen? Blättert mal ein paar Seiten weiter, dann werdet ihr sehen, was sie taten. Saßen neben der Suppenterr­ine auf dem Tisch und löffelten direkt daraus. Glaubt den Erwachsene­n kein Wort, wenn sie von früher sprechen!

Newspapers in German

Newspapers from Germany