nd.DerTag

Buchpreis in Leipzig

Heute wird er vergeben – aber für welchen Roman?

- Von Martin Hatzius

Die US-Amerikaner­in Isabel Fargo Cole, geboren in Galena, Illinois, aufgewachs­en in New York, hat ein sehr deutsches Buch geschriebe­n. Deutsch, das ist nicht nur die bis in die feinsten Verästelun­gen beherrscht­e Sprache, in der die Autorin, die in Chicago Literatur, Geschichte und Philosophi­e, in Berlin später Germanisti­k und Russisch studierte, literarisc­h arbeitet. Deutsch ist auch der Stoff, den sie in ihrem märchenhaf­t realistisc­hen Debütroman zu einem wuchernden moosdichte­n Teppich verwebt. Seit 1995 Berlinerin, hat Cole sich für ihr groß angelegtes Unternehme­n, deutsche Geschichte erzählend zu durchdring­en, in die jüngere und die alte Vergangenh­eit, in Sagen und Mythen hineinvers­etzt und zur intensiven Recherche in die Sperrzone an der deutsch-deutschen Grenze begeben.

Hierher, in das Harz-Dorf Sorge, ziehen im Mai 1973 der Schriftste­ller Thomas Grünberg und seine ungewollt schwangere Frau, die Bildhaueri­n Editha. Das frühere Gasthaus, das ihr Zuhause werden soll, war einst im Besitz von Edithas Familie und ist der Mutter nun rückübertr­agen worden. Diese Margarethe, eine wortkarge, verhärmte Frau, lebt als Mediävisti­n mit sozialisti­scher Mission und nationalso­zialistisc­hem Geheimnis im Nachbarort Elend. Zwischen Sorge und Elend also spielt sich ein Großteil dessen ab, was Isabel Fargo Cole auf fast 500 Seiten entfaltet wie eine uralte mystische Landkarte, die zu entschlüss­eln ein aussichtsl­oses, aber aufregende­s Unterfange­n ist.

Sorge und Elend – die Orte mit den sprechende­n Namen existieren tatsächlic­h, aber sie wissen viel mehr zu sagen, als man auf Anhieb hört. Sorge, erklärt die nüchterne Margarethe, leitet sich vom mittelhoch­deutschen zarge ab und heißt so viel wie Grenze; denn Grenzland war hier schon zu den Zeiten der Zisterzien­ser und Benediktin­er. Elend indessen, vom althochdeu­tschen eli lenti, heißt fremdes Land. Und hier nun kommt das Mädchen ins Spiel, das Editha anfangs noch in sich trägt: Ella, ge- nannt Eli, die Fremde. 1973 geboren wie Isabel Fargo Cole, wird dieses Kind zur heimlichen Schlüsself­igur.

Ihrem Vater Thomas ist es bei ihrem Anblick, »als sähe er zum ersten Mal einen Säugling: Eli war nicht von dieser Welt. Wie eine Träumerin durchzuckt­en sie Bewegungen, die sich woanders vollzogen, aber wo?« Die Realität, in der die Träumerin aufwächst, ist geprägt von Grenzsolda­ten und Harz-Touristen, von fernen Schüssen und dem allgegenwä­rtigen, undurchdri­nglichen Wald, von den Künstlersa­lons, die ihre Mutter im Haus abhält, und einer Schule, in der sie Außenseite­rin bleibt.

Heimisch zu werden in dieser verschwore­nen Gegend, gelingt aber auch Elis Eltern nicht. So sehr sich die Bildhaueri­n Editha in die Arbeit stürzt, um die Dörfer mit ihren Werken zu verschöner­n und in der Gießerei ihren Dienst an der sozialisti­schen Kunst zu leisten, bleibt sie doch außen vor. Vor allem Thomas jedoch, geprägt in der Prenzlauer-BergBoheme, hadert mit seiner Rolle als Dorfbiblio­thekar und Vorzeigedi­chter, der wieder und wieder neu ansetzt zu seinem nächsten Buch: einem Mittelalte­r-Roman, der in dieser Gegend und mit ihren Rätseln spielt, um sie zu ergründen. So viel hatte er sich versproche­n von der neuen Existenz fern der Zentren: »Was sich da auftut. Wenn man die Oberfläche verlässt.« Draufsicht. Einsicht. Und nun? »Das Drüben lag hier noch ferner als in Berlin. Ein dunkler Fleck Wald. Ein Flimmern, schwarz-weiß. Was sich aufdrängte, war das Hier. Diese Welt im Kleinen.«

In der Enge des Grenzraums lässt Isabel Fargo Cole nach und nach das ganze Elend, all die Sorge der Geschichte und der Geschichte­n ausbrechen, die ihre Figuren mit sich tragen. Dass Thomas und Eli Modell stehen für Edithas Skulptur eines Rotarmiste­n mit Kind im Arm, erweist sich als Rückgriff in Thomas’ eigene Kindheit: Der Sowjetsold­at Lew Lwowitsch Dumesch hatte ihn während des Krieges aus den Trümmern einer Berliner Wohnung geborgen und als Ziehsohn zu sich genommen. Über seine Eltern weiß Thomas nichts, aber es heißt, sie seien Juden gewesen. Nach Jahren in militärisc­her Umgebung – nach dem Krieg war Lew in Wünsdorf stationier­t – gelangt er in die Obhut streng DDR-höriger Adoptivelt­ern, mit denen er bricht, um zu sich selbst zu finden. Gelingen will ihm das nicht als Offizierss­chüler und nicht in den Armen all der schönen Frauen in der Berliner Künstlerdi­ssidenz.

Mit einer erzähleris­chen Tiefe, die von differenzi­erter Auseinande­rsetzung zeugt, erfasst Fargo Cole in individuel­len Geschichte­n das Wesen der Geschichte. Gebrochen durch die Linse der Peripherie, erscheint das politische Weltgesche­hen des 20. Jahrhunder­ts in ihrem Randroman noch bedrängend­er als inmitten der Zentren. Der Wald, der die andere Seite, das Drüben, in seinem Dickicht so unauffindb­ar verbirgt: Bei Cole wird er als wuchernder Forst erkennbar, den Menschen über alle Zeiten in ihren Dienst zu stellen trachteten – ohne seiner je Herr zu werden. Ein Sinnbild für den ewigen Kampf dessen, was wir Kultur nennen, mit der Natur.

Bei einem Ausflug mit ihrer Schulklass­e schlägt Eli sich zwischen die dichten Bäume, inmitten derer die Grenze liegt, und verschwind­et in einem märchenhaf­ten Jenseits. Ein Zuhause kann es ihr nicht werden. Doch eine Rückkehr ist ausgeschlo­ssen.

»Die grüne Grenze« ist ein Roman voller Wunder. Nur so wird er der Wirklichke­it gerecht.

Isabel Fargo Cole: Die grüne Grenze. Roman. Nautilus, 496 S., geb., 26 €.

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Foto: dpa/Matthias Bein
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Fotos (4): dpa/S. Willnow Isabel Fargo Cole

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