Schwanger werden zu können verbindet
Kerstin Wolter und Alex Wischnewski über sexuelle Selbstbestimmung und soziale Gerechtigkeit
Wieder hat die SPD einen Rückzieher gemacht: In der Debatte um das Werbeverbot für Abtreibungen fahren die Sozialdemokraten einen Zickzackkurs und sorgten erst am Dienstag für neue Schlagzeilen. Sie wollen nun doch keinen Gesetzentwurf zur Streichung des Paragrafen 219a einbringen. Die Debatte darüber zeigt, wie umkämpft das Thema Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland ist. Das liegt auch daran, dass die Frage, ob und unter welchen Bedingungen Frauen ungewollte Schwangerschaften beenden können, weit über individuelle Freiheitsrechte hinausgeht.
Mit dem Fall Kristina Hänel hat die Diskussion einen neuen Höhepunkt erreicht. Die Ärztin wurde von christlichen Fundamentalist*innen angezeigt, weil sie auf ihrer Webseite über die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen in ihrer Praxis informierte. Ihr Fall hat aber auch Möglichkeitsfenster geöffnet, die Illegalisierung von Abtreibung nach Paragraf 218 insgesamt aufs Tableau zu heben. Eine Situation, wie es sie seit Alice Schwarzers Kampagne »Auch ich habe abgetrieben« 1971 und der Auseinandersetzung über den Paragrafen 218 zu Beginn der 1990er nicht mehr gegeben hat.
Der Kampf um die Streichung der Paragrafen 218 ff. hat in doppelter Weise enormes Potenzial. Zum einen können darüber zahlreiche Aspekte kapitalistischer Gesellschaftsverhältnisse in Frage gestellt werden. So können wir in ihr den »Zusammenhang von Frauenunterdrückung und Produktionsverhältnissen, von Patriarchat, Kultur, Ideologie, Staat und Kapital, Privatem und Politischem« (Frigga Haug) erkennen. Die Regulierung von Abtreibung stellt all das unter einem Brennglas dar und führt auch zur Frage staatlicher Bevölke- rungspolitik. Welchen Einfluss hat diese auf weibliche Fortpflanzung? Wer entscheidet über den Frauenkörper? Ehemann? Staat? Kirche?
Frauen haben schon immer abgetrieben. Nur leider viel zu oft illegalisiert unter lebens- oder zumindest gesundheitsgefährdenden Bedingungen. Es geht also auch um die Frage von Gesetzen und Justiz und um ein demokratisches und soziales Gesundheitssystem. Kerstin Wolter arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin der LINKE-Ko-Vorsitzenden Katja Kipping. Alex Wischnewski ist Referentin für feministische Politik der LINKEN im Bundestag.
Zum anderen bietet der Kampf um sexuelle Selbstbestimmung die Möglichkeit für breite Mobilisierungen. Denn schwanger werden zu können, betrifft sehr viele Frauen und verbindet sie über sonstige Spaltungen und Weltanschauungen hinweg. Genau deshalb geht es auch darum, die Einsichten über die Zusammenhänge in gemeinsamen Kämpfen praktisch werden zu lassen.
Ein herausgehobenes Beispiel dafür ist die aus den USA kommende Auseinandersetzung über »reproduktive Gerechtigkeit«. Der Begriff bringt sexuelle Selbstbestimmung mit den mit Fortpflanzung verbundenen Rechten und sozialer Gerechtigkeit zusammen. Er weist darauf hin, dass für viele Frauen das Recht, Kinder zu bekommen und aufzuziehen, ebenso wenig eingelöst wird wie jenes, ungewollte Schwangerschaften zu beenden – ja, es sogar leichter erscheinen mag, ein Kind nicht zu kriegen, statt es unter Bedingungen sozialer Marginalisierung großzuziehen.
Unter der Klammer der reproduktiven Gerechtigkeit könnten sich in Deutschland die Kämpfe für die Abschaffung des Paragrafen 218 mit Auseinandersetzungen verbinden, die bisher keine vergleichbare Lobby haben. So etwa der Streit um die Zwangsterilisation von Frauen mit Behinderungen. 2015 betraf das noch immer 26 Frauen, von denen viele mit entsprechender Unterstützung Kinder großziehen könnten. Hier fehlt es noch an gesellschaftlichem Druck auf den Gesetzgeber. Und obwohl von Regierungsseite stets die Unterstützung von Familien und Kindern beschworen wird, gibt es eine soziale Schieflage. Knapp ein Fünftel aller Kinder ist von Armut betroffen. Während der Kinderfreibetrag besonders gut verdienenden Paaren zugutekommt, wird das Kindergeld von Hartz IV abgezogen. Auch Alleinerziehende erfahren zu wenig gesellschaftliche Unterstützung.
Der Begriff der reproduktiven Gerechtigkeit verdeutlicht schließlich, dass unterschiedliche Betroffenheiten auch etwas Gemeinsames haben. Einzelne Akteur*innen reden bereits darüber, es fehlt aber noch an praktischer Bündnisarbeit. Das Recht auf freie Information über Schwangerschaftsabbrüche, um das derzeit gestritten wird, ist trotz der Entscheidung der SPD vielleicht erst der Anfang. Die Abtreibungsgegner*innen hätten sich mit ihren Anzeigen so am Ende ins eigene Fleisch geschnitten.