»Afrins Verteidigung ist die Sache aller«
Nazim Dastan, ein Augenzeuge: Widerstand trotz Einkesselung und unterbrochener Wasserversorgung
Der überwiegend kurdisch besiedelte Distrikt Afrin in Nordsyrien ist angeblich von der türkischen Armee und der sogenannten Freien Syrischen Armee (FSA) so gut wie umzingelt. Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan sagte am Mittwoch in einer Rede vor Anhängern in Ankara: »Wir sind ein bisschen näher an Afrin herangekommen. ... Ich hoffe, dass Afrin, so Gott will, bis zum Abend vollständig fällt.« Wie ist die aktuelle Situation in der Stadt Afrin?
Wir erleben jetzt schon über 50 Tage Angriffe auf den Distrikt. Es gab an verschiedenen Orten Gefechte. Vor allem Vororte um Afrin wurden immer wieder aus der Luft und vom Boden aus bombardiert. Aus der SheraRegion greifen die türkische Armee und radikale Salafisten an. Sie nähern sich der Stadt Afrin von dort, es sind noch drei bis vier Kilometer zur Stadtgrenze. Auch aus Cindirese, einer Stadt südwestlich von Afrin, rückt die türkische Armee heran.
Welchen Schaden haben die Angriffe verursacht?
Erst wollten sie die Stadt in einer Woche einnehmen, das ist nicht gelungen. Seit dem 20. Januar dauert die Aggression nun an. Weil der Widerstand bisher nicht gebrochen werden konnte, haben die Türken begonnen, vor allem zivile Ansiedlungen ins Visier zu nehmen.
Archäologische Stätten, Schulen, Werkstätten, Wohnhäuser wurden angegriffen und zerstört. Manche Dörfer gibt es nicht mehr, sie sind praktisch dem Erdboden gleich gemacht worden. Wasserleitungen wurden bombardiert. Seitdem die Angreifer den Maydanki-Damm eingenommen haben, ist die Wasserzufuhr in die Stadt unterbrochen. Telefonleitungen wurden zerstört, zur Zeit kann man nicht mehr telefonieren. Es mangelt an Medikamenten und alltäglichen Gebrauchsgütern. Trotzdem werden alle Menschen, deren Dörfer besetzt wurden und die in die Stadt fliehen mussten, von der Selbstverwaltung untergebracht. Die Menschen öffnen ihre Türen, es gibt eine große Solidarität. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan behauptet, dass es keine zivilen Opfer gebe. Haben Sie Informationen vor Ort? Waren Sie in den Krankenhäusern, und was haben Sie dort gesehen? Erdogan sagt zwar, dass es keine zivilen Opfer gebe, aber Medienvertreter könnten es hier mit eigenen Augen sehen: Das Afrin-Krankenhaus ist voll mit Zivilisten, die bei den Angriffen verletzt wurden. Die Me-
Nazım Daştan, Journalist der Mesopotamien-Nachrichtenagentur, zur Zeit vor Ort in Afrin-Stadt. Mit ihm sprach für »nd« am Montag in Nordsyrien Kerem Schamberger. dikamente werden knapp. Die Zahl der Toten und Verletzten wurde dokumentiert und an internationale Organisationen weitergegeben.
Die Aussage, dass es keine zivilen Opfer gegeben habe, ist also falsch. Bisher wurden etwa 300 Zivilisten getötet und 700 verletzt. Ich habe es im Mamata-Gebiet selbst gesehen, wo vor allem alewitische Kurden leben. Dort wurde ein Haus getroffen, in dem eine achtköpfige Familie lebte. Nur eine 18-jährige Frau hat überlebt, alle anderen sind gestorben. Ihre Leichen wurden aus den Trümmern des Hauses gezogen.
Dann gibt es noch das Flüchtlingslager Rubar, in dem Menschen aus ganz Syrien leben. Auch das ist ins Fadenkreuz geraten. Dabei wurde eine 25-köpfige Familie getroffen, nur sie- ben von ihnen überlebten. Teilweise konnten die Leichen dort bis heute nicht geborgen werden, weil sie immer noch unter den Trümmern liegen und die Bombardements der türkischen Luftwaffe anhalten. Mitarbeiter des kurdischen Roten Halbmondes ist es bisher nicht gelungen, bis dorthin vorzudringen, teilweise wurden sogar ihre medizinischen Einrichtungen bombardiert.
Was können Sie über die Verteidigung der Stadt sagen?
Die Demokratische Kräfte Syriens (SDF) haben sich auf die Aggression vorbereitet Zu den SDF gehören auch die Volksverteidigungseinheiten (YPG) der Kurden in Syrien. Ein YPGSprecher hat die Prophezeiung Erdogans vom baldigen Fall Afrins als »Träumerei« bezeichnet. Es sind nicht nur militärische Kräfte, die Widerstand leisten. Die Stadt wird von allen – Frauen und Jugendlichen – sowie ihren Familien verteidigt.
An manchen Fronten bleiben die Mütter und Väter an der Seite ihrer Kinder, wieder anderswo befinden sich drei Geschwister in einer Stellung, um die Angriffe der türkischen Armee und der FSA abzuwehren. So wie im ländlichen Gebiet Afrins Widerstand geleistet wurde, so wurden auch im Stadtzentrum entsprechende Vorkehrungen getroffen.
Wer trägt für die Menschen vor Ort die Verantwortung für das Morden? Es gibt einen Aufruf von allen Menschen in Afrin, von allen Völkern, die hier leben, Arabern, Kurden, Turkmenen, Assyrern, Alewiten, Jesiden. Denn hier werden Menschen jeglicher Herkunft getötet. Es wird hier von einem internationalen Komplott gegen die Selbstverwaltung der Provinz gesprochen.
Die Menschen hier sagen, dass Russland, die USA, die Europäische Union und die UNO dafür verantwortlich sind. Keine dieser Mächte wendet sich gegen die türkische Aggression. Die Völker Nordsyriens machen diese Kräfte deshalb auch mitverantwortlich. Warum schweigen sie bis heute zum Mord an Frauen und Kindern hier in Afrin?