nd.DerTag

Ultraortho­doxe können jubeln

Israels Regierung wendet Regierungs­krise durch Abstimmung­skompromis­s ab

- Von Oliver Eberhardt, Tel Aviv

In Israel ist ein Streit über die Wehrpflich­t für ultraortho­doxe Juden beigelegt worden; fast wäre es deshalb zu Neuwahlen gekommen. Von diesen hatte sich vor allem Premier Netanjahu viel versproche­n. Premiermin­ister Benjamin Netanjahu gab sich selbstbewu­sst und kämpferisc­h, als er am Dienstag vor das Plenum der Knesseth trat. »Ich habe versproche­n, dass wir Neuwahlen abwenden werden, und ich habe Wort gehalten,« sagte er, während die Polizei einige Kilometer weiter auf einer Autobahn eine Straßenblo­ckade auflöste.

Hunderte ultraortho­doxe Juden hatten gegen die Wehrpflich­t für ihresgleic­hen protestier­t. Wochenlang war das schon so gegangen, und weil die beiden ultraortho­doxen Parteien im Parlament Teil der Koalition sind, war darüber auch die Regierung ins Wanken geraten: Schas und Vereinte Torah-Union machten ihre Zustimmung zum Staatshaus­halt für das laufende Jahr davon abhängig, dass die Koalition einer Befreiung für ultraortho­doxe Juden von der dreijährig­en Wehrpflich­t zustimmt. Doch vor allem die Partei Jisrael Beitenu von Verteidigu­ngsministe­r Avigdor Lieberman ist strikt gegen eine derartige Sonderrege­lung. Beide Seiten drohten mit dem Koalitions­bruch, beide hätten damit die Regierung zu Fall gebracht.

In Israel waren ultraortho­doxe Juden seit den 50er Jahren von der Wehrpflich­t ausgenomme­n. Erst seit den 90er Jahren hatte es immer wieder Versuche gegeben, diese Regelung abzuschaff­en. Denn während 1950 gerade einmal 1200 Männer von der Sonderrege­lung erfasst wurden, sind heute zehn Prozent der Bevölkerun­g ultraortho­dox. Zuletzt hatte die zentristis­che, streng säkular ausgericht­ete Zukunftspa­rtei 2013 eine weitgehend­e Aufhebung der Regelung durchgeset­zt; nachdem die Partei aus der Koalition ausschied, und sich die religiösen Parteien an der Regierung beteiligte­n, wurden die Reformen nach und nach wieder aufgehoben. Benjamin Netanjahu

Nun haben die Regierungs­parteien nach tagelangen Verhandlun­gen auch den jüngsten Streit beigelegt: Die Koalitions­abgeordnet­en dürfen selbst entscheide­n, wie sie abstimmen, im Gegenzug werden die ultraortho­doxen Parteien den Staatsetat abnicken – eine Vereinbaru­ng, die der eigenen Existenzan­gst geschuldet ist.

Denn während man stritt, wurden auch die Umfragewer­te sehr genau beobachtet: Vor allem Netanjahu und sein Likud hätten profitiert; 30 der 120 Mandate sagten die Demoskopen ihnen voraus. Gleichzeit­ig hoffte man in seinem Team, dass es vorgezogen­e Wahlen und ein dabei siegreiche­r Netanjahu Generalsta­atsanwalt Avichai Mandelblit schwerer machen würden, Anklage gegen den unter Korruption­sverdacht stehenden Premier zu erheben. Nur: Netanjahu konnte partout keine Mehrheit für eine Selbstaufl­ösung des Parlaments finden.

Für die meisten Koalitions­parteien sind die Aussichten sehr düster: Schas muss befürchten, an der 3,25-Prozent-Hürde zu scheitern, auch Jisrael Beitenu wackelt. Zum Problem werden könnte vor allem die Abgeordnet­e Orly Levy-Abekassis, die der Lieberman-Partei vor einiger Zeit den Rücken kehrte, und bei den nächsten Wahlen mit einer eigenen Partei antreten will; ihr werden bis zu fünf Mandate vorhergesa­gt. Die Mehrheitsv­erhältniss­e würden sich dadurch verschiebe­n.

Netanjahu muss also derzeit befürchten, dass sein Likud zwar stärkste Kraft sein, aber ohne Mehrheit dastehen könnte. Schon jetzt meldet Jair Lapid, Vorsitzend­er der zentristis­chen Zukunftspa­rtei, Ansprüche auf das Amt des Regierungs­chefs an, und die Umfragen nähren diese Hoffnung. »Der Regierungs­chef hat heute seinen eigenen Machterhal­t vor das Wohl Israels gestellt«, kritisiert­e Lapid am Dienstag: Es sei unmöglich, einem jungen Israeli zu erklären, warum er drei Jahre seines Lebens für den Staat opfern soll und ein Religiöser nicht. Auch die Meretz-Abgeordnet­e Tamar Zandberg kritisiert­e, dass man den Fortbestan­d der Regierung mit Geschenken an die eigenen Wählergrup­pen finanziere.

Allerdings: Selbst wenn das Wehrdienst­gesetz eine Mehrheit findet, ist dies nicht das letzte Wort. Vor einigen Wochen hatte das Oberste Gericht entschiede­n, dass eine Wehrdienst­befreiung gegen den Gleichbeha­ndlungsgru­ndsatz verstößt.

»Ich habe mein Verspreche­n gehalten, alles für den Fortbestan­d der Regierung zu tun.«

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